Deutschland 1944, alle Zukunft ist ungewiss. Luisa heißt die Heldin in Ralf Rothmanns neuem Roman „Der Gott jenes Sommers“, zwölf Jahre ist sie alt und lebt mit Mutter und Schwester auf einem Gut in der Nähe von Kiel, wo sie trotz des Krieges relativ in Sicherheit sein soll. Der Vater kommt so oft es geht aus der Stadt zu Besuch und bringt reichlich Lebensmittel mit, weil er das dortige Offizierscasino der Marine betreibt und damit gut versorgt und vernetzt ist. Während Kiel in Schutt und Asche gebombt wird, bleiben die Kasernen schon jetzt für den Einzug der englischen Truppen verschont, so ist der Vater überzeugt.
Luisa ist eine Leseratte, lässt sich aus zerbombten Häusern Bücher mitbringen, weshalb sie mehr französisch-stämmige Wörter benutzt als es dem Nazi-Lehrer gefällig ist, und baut sich eine eigene kleine Bibliothek auf, in der sie die Bücher nach den Titeln sortiert, weil sie die Einordnung nach Autorennamen schlicht nicht kennt. Sie tagträumt, liebt besonders Karl May und „Vom Winde verweht“, bringt Lebensmittel ins Kloster, wo verwundete Soldaten zum Sterben liegen, kümmert sich um kranke Pferde und ist nach der Geburtshilfe bei einem Kalb sogar schon ein bisschen schwärmerisch in den jungen Melker Walter verliebt.
Der Krieg rückt näher, als ein Flugzeug die Schule beschießt, aber vor allem sind es die Geschichten der Flüchtlinge, die Luisa im Kopf herumschwirren. „Wenn wir den Krieg verloren haben und die asiatischen Horden kommen, erschießen sie übrigens die Kapitalisten. Das hat mir eine Flüchtlingsfrau aus Schlesien erzählt, die hatte noch Blut am Schuh“, lässt sie ihre Familie beiläufig wissen. „Und wir werden brutal vergewaltigt – Mama, Gudrun, Billie, alle.“
Eine Kirche versinkt im Wasser
Die Gefahr, die von außen droht, ist für Luisa von Anfang an klar definiert. Sie wird für den Leser noch deutlicher abstrahiert durch mehrere Einschübe, in denen Rothmann Szenen aus dem Dreißigjährigen Krieg erzählt, in denen ein Mann versucht eine Kirche umzusetzen, die dann allerdings im Wasser versinkt. Männer sterben, Dörfer brennen, Frauen werden vergewaltigt auch zu jener Zeit.
So ist der Krieg schon immer gewesen, lernt der Leser hier. Indes lauert die Gefahr für Luisas Seele von ganz anderer Seite. Nicht die alliierten Truppen, die völlig verrottete Gesellschaft um sie herum drohen das Mädchen zu zerstören, und das ist ein sich langsam aufbauender Horror, der den Roman zu dem eigentlichen Leseereignis werden lässt.
Rothmann, Jahrgang 1953, der als Sohn eines Zechenarbeiters und einer Kellnerin im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, in den 70er-Jahren nach Berlin gezogen ist und heute in Frohnau lebt, hat sich nach seinen Ruhrgebiets- und Berlin-Romanen schon in seinem von der Kritik hoch gelobten Roman „Im Frühling sterben“ in die Nazizeit versetzt.
„Kinder, genießt diesen Krieg, der Frieden wird furchtbar werden“, heißt es zum Höhepunkt des neuen Romans, als es in einer Villa in Relation zu den notleidenden Menschenmassen des Krieges zu einer geradezu orgiastischen Party kommt, die Luisa mit ihrer Familie besucht. Champagner fließt, es gibt Essen im Überfluss in dieser Gemeinschaft der Privilegierten, die sich im Rausch ihrer Macht der Gier ergeben, sich alles nehmen, wovon sie glauben, dass es ihnen zusteht. Es ist die Villa von Gudrun, Luisas Halbschwester, die mit dem Neffen von Admiral Karl Dönitz verheiratet ist, endlich schwanger geworden ist, verbissen noch immer an den Endsieg glaubt und in ihrer Halbschwester Billie eine Konkurrentin um das Wohlgefallen ihres Mannes Vinzent sieht.
Konkurrenz durch die neuen Flüchtlinge
Familienbrüche tun sich gleichsam auf. Da ist Luisas Vater, der schon einmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Da ist die Mutter, die sich dauerhaft über ihre Lebensumstände beklagt, obwohl es ihnen doch relativ gut geht, die sich über neue Flüchtlinge beschwert, die allen die Haare vom Kopf fressen, und keine weiteren Einquartierungen hinnehmen will, die ihrem Mann schon mal sagt, sie hätte ihn besser sterben lassen sollen.
Was zählt denn schon auch noch in einem Land, in dem Seeleute Matrosen anderer Schiffe nicht mehr retten, auch wenn das normalerweise die Ehre der Seefahrer und die Genfer Konventionen so vorsehen? Welchen Werten noch folgen, wenn Häftlingsmärsche am Ort vorbeiziehen, und der Vater erklärt, dass die eben keine Sträflinge sind, weil sie ja nichts getan haben, wozu sie zu bestrafen sind.
Luisa, die Träumerin, wird ein Opfer dieser Gesellschaft und ihrer allernächsten Umgebung. Sie wird zudem noch schwer erkranken, geliebte Menschen verlieren und am Ende behaupten: „Ich habe alles erlebt.“ Natürlich stimmt das nicht, aber mit der Erschöpfung, der Zerstörung und Leere, die diese jungen Menschen erfahren mussten, aber auch mit der Genusssucht, der Konsumfixierung und Gefühlskälte, die sich in ihrem Umfeld zeigt, verweist Rothmann deutlich hinüber in die Nachkriegszeit, in der zudem nur ein paar wenige „Dreckskerle“ zur Verantwortung gezogen wurden, die anderen aber schnell wieder nach oben gekommen sind.
Trost gibt in diesem Roman nur der Blick ganz weit zurück. „Indes ließ Hoffnung nicht gänzlich sich zermalmen“, steht es in den mittelalterlichen Passagen geschrieben. „Sie blieb in den Herzen trotz aller Gräuel.“ So wünscht man das dann auch Luisa, die nach dem Krieg daran denkt, ins Kloster zu gehen. Jedoch: „Mit der ersten Sonne kam Farbe in die matten Augen zurück, Glanz in das zerraufte Haar, ein zag geflüstert Lied auf die rissigen Lippen.“ Es muss weitergehen.