Eine Digitaluhr füllt den Bildschirm hinter der Bühne, sie beginnt abwärts zu zählen. 20 Minuten, dann sollen sie kommen, die Weltstars von Nickelback. 15 Minuten noch: Ein Techniker befreit die Bühne mittels Wischmopp vom Schweiß der Vorband Seether. Fünf Minuten: Die Leute strömen von den Toiletten zurück auf ihre Plätze. Die letzten zehn Sekunden: Das Publikum johlt, man tippt sich gegenseitig auf die Schulter und zählt lauthals runter.
Der Countdown läuft ab, die Uhr zeigt null; doch von der Band keine Spur, stattdessen wird ein Werbefilm für eine Nickelback-Dokumentation gezeigt. Das Video endet, noch immer lässt die Band auf sich warten. Dann endlich springen die Nebelmaschinen an. Nickelback stürmen die Bühne. Das Publikum bricht in euphorischen Lärm aus, die vergeigte Spannungskurve scheint vergessen. Die Band ist ein Paradoxon. Trotz ihrer sechs Grammy-Nominierungen und über 50 Millionen verkaufter Tonträger belegt sie um Frontmann Chad Kroeger in fast jedem Ranking namhafter Musikmagazine den Platz der meistgehassten Band der Welt. Erst 2016 drohte eine kanadische Polizeiwache damit, Straftäter zur Musik von Nickelback abzuführen.
Bei ihrem Konzert am 16. Mai in der Max-Schmeling-Halle ist von dieser Negativität nichts zu spüren. Die Fans feiern die vier Musiker aus Alberta (Kanada). Gitarrist Ryan Peake bemerkt eine Frau mit Pappschild, auf dem in englischer Sprache zu lesen ist: „Mein Verlobter hasst euch, lasst uns ein Foto machen, um ihn anzupissen.“ Ohne zu zögern, verspricht Kroeger ihr, das Foto im Laufe der Show aufzunehmen.
Für die Performance von „Rockstar“ werden zwei Freiwillige auf die Bühne gezogen, ein Mann und eine Frau, die beiden sind textsicher, spielen sogar ein bisschen mit dem Publikum, man fragt sich, wie zufällig ihre Auswahl tatsächlich war. Wenig später findet erneut ein Fan auf die Bühne. Auf einem Schild hatte er gebeten, die Band bei ihrem Song Animals auf der Gitarre begleiten zu dürfen. Man gibt ihm ein Mikro, er stellt sich als Colin vor und verkündet: „Tim, ich kriege zwei Kästen Bier von dir.“
Gegen Ende spielen Nickelback ihren Hit How You Remind Me, den erfolgreichsten Rocksong des vergangenen Jahrzehnts. Und während der Zugabe kommt schließlich auch noch das versprochene Foto mit der jungen Frau zustande, die auf diese Weise ihren Verlobten ärgern will. Kroeger streckt den Mittelfinger in Richtung Handykamera und lacht, bevor er und seine Bandkollegen sich unter lautem Jubel verabschieden.