Kultur

Der Regisseur des Diskurses

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Felix Müller

Vor vier Jahren starb der Ausnahmejournalist Frank Schirrmacher. Eine neue Biografie schildert Stationen seines Lebens

Der Journalist Dirk Kurbjuweit arbeitete im Jahr 1999 an einem Porträt über Frank Schirrmacher, das später in dem inzwischen eingestellten Magazin „Spiegel Reporter“ erscheinen sollte. Durch Zufall las er zu jener Zeit seinem Sohn Astrid Lindgrens Roman „Karlsson vom Dach“ vor. Karlsson, ein lustiger Mann in den besten Jahren, hat einen Propeller auf dem Rücken. Eines Tages fliegt er in das Kinderzimmer des schüchternen Jungen Lillebror, in dessen Leben es fortan keine Langeweile mehr gibt. Karlsson ist mitreißend, exzessiv, anarchisch, ideenreich, lustig und vernarrt ins Geschichtenerzählen. Kurbjuweit fiel auf, wie viel diese Figur mit Frank Schirrmacher gemeinsam hatte, und schrieb das auf. Auch Michael Angele beginnt sein jetzt erschienenes Buch über diesen vor vier Jahren gestorbenen Journalisten mit diesem Vergleich: „Wie Karlsson wollte Schirrmacher immer gewinnen, immer schneller sein als die anderen, sie überrumpeln.“

Ein großes Gespür für theatralische Effekte

Und die anderen starrten, je länger sie andauerte, immer faszinierter auf die Karriere dieses Mannes, der mit nur 29 Jahren als Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) und mit 34 Jahren einer ihrer Herausgeber wurde. Sie lasen seine Texte, die sich zunächst mit Hingabe und vielen Superlativen der Literatur widmeten und sich in späteren Jahren dann gesellschaftlichen Großthemen wie der Überalterung, der wissenschaftlichen Durchleuchtung des Menschen oder der Digitalisierung zuwandten. Sie studierten seinen Twitter-Feed, um Hinweise darauf zu finden, welches Thema er als Nächstes ausgraben und groß machen würde: Geheimdienste? Überwachung? Neue Technologien? Schirrmacher war kein Debattenteilnehmer wie jeder andere, er war ein Regisseur des Diskurses, hochintelligent und gesegnet mit großem Gespür für theatralische Effekte. „Etwas zu machen, worüber am nächsten Tag die ganze Nation spricht, macht schon Spaß“, sagte er 1999 im Gespräch mit der Fotografin Herlinde Koelbl. Es gelang ihm ein ums andere Mal. Noch zwei Jahre nach seinem viel zu frühen Tod im Alter von 54 Jahren erzählte Martin Schulz, dass er sich auf langen Autofahrten manchmal frage, was Schirrmacher wohl in dieser Situation geraten hätte.

Michael Angele, heute stellvertretender Chefredakteur des „Freitag“, hat als Redakteur der „Berliner Seiten“, die der „FAZ“ von 1999 bis 2002 in der Hauptstadt beilagen, Schirrmacher nur von fern erlebt. Er hat für seine Biografie viele Gespräche mit ehemaligen Weggefährten geführt, ein Gebirge aus Texten gelesen und unzählige E-Mails ausgewertet. Entstanden ist ein spannendes, auch stilistisch überzeugendes Porträt eines Geistesmenschen und Netzwerkers, der sich auf die Geheimnisse der Literatur ebenso verstand wie auf das nächste große Ding oder die Ränkespiele am Hof der Macht.

Wer Schirrmachers Leben verfolgt hat, wird vieles Bekannte wiedererkennen und hier doch präziser und lebhafter geschildert finden, als es die bloße Erinnerung vermag. Schirrmachers Werben um Joachim Fest etwa, den für das Feuilleton zuständigen „FAZ“-Herausgeber, dem der junge Mann ganze Passagen aus Fests epochaler Hitler-Biografie von 1973 vortragen konnte und über die er angeblich auch einen Vortrag in Harvard gehalten hatte. Seine umstrittene Dissertation an der Gesamthochschule Siegen, bei der es sich offenbar nur um eine leicht erweiterte Fassung seiner verschollenen Magisterarbeit aus dem Jahr 1984 handelte. Der effektvolle Abdruck der menschlichen Genomsequenz auf sechs Seiten des Feuilletons im Jahr 2000. Die darauf folgende Erfindung des Wissenschaftsfeuilletons. Die aufsehenerregende Weigerung, Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ vorab zu drucken, weil Schirrmacher in ihm antisemitische Motive erkannte. Sein publizistischer Anteil an der Demission des Bundespräsidenten Christian Wulff. Seine medialen Netzwerke, die von Kai Diekmanns „Bild“ bis zu Stefan Austs „Spiegel“ reichten. Man könnte diese Liste noch länger fortsetzen. Es bereitet eine melancholisch eingefärbte Freude, sich die Atemlosigkeit zu vergegenwärtigen, mit der Schirrmacher ein Thema nach dem anderen ritt, einmal quer durch den Debattengarten, immer unberechenbar, oft humorbegabt, aber auch nicht ohne unnötige Härte gegen Kollegen.

Zu den wirklichen Fundstücken in diesem Buch, das im Bezug auf allzu Privates übrigens erfreulich diskret bleibt, gehört aber der ganz frühe Frank Schirrmacher, der als Zwanzigjähriger leidenschaftlich für den Dichter Stefan George schwärmte. In langen Briefen und in Telegrammen umschmeichelte er den in Amsterdam lebenden Schriftsteller Wolfgang Frommel, der sich mit der Stiftung Castrum Peregrini darum bemühte, das Erbe Georges lebendig zu halten. In den Briefen spiegelt sich neben literarischer Begeisterung auch ein Sinn für Männerbünde und die Suche nach einer Mentorenfigur – Motive, die auch für seine weitere Karriere zentral bleiben sollten. Vor allem aber kann man aus ihnen die „Gabe der Bewunderung“ herauslesen, die Schirrmachers Säulenheiliger Thomas Mann einmal „für die allernötigste“ erklärte, „um selbst etwas zu werden“. Mit ihr wurde Frank Schirrmacher zu einem der einflussreichsten Journalisten der Republik. Was er uns wohl heute zu sagen hätte?