Berlin ist für immer jung, und wir wollten das auch sein“, heißt es in einer Kurzgeschichte von Kirsten Fuchs in ihrem neuen Band „Signalstörung“, in der ein geläuterter Trinker, der heute seine Stammkneipe zu Zeiten putzt, in denen andere noch gar nicht ins Bett gegangen sind, aus seinem Leben erzählt. „Wir haben uns in Alkohol eingelegt und die Konvention des Altwerdens ausgelacht, bis unsere Zähne eklig aussahen, weil keine Krankenversicherung. Da haben wir immer noch gelacht. Dann wurde der Wind kälter und die Zähne schmerzempfindlich, und dann war die fehlende Krankenversicherung schon ein großer Scheiß.“
Melancholie beherrscht die Geschichte mit dem nicht ganz so kurzen Titel „Wie ich mal in die Kneipe ging, um überhaupt nichts Neues zu erfahren, niemanden kennenzulernen und nichts zu trinken“, so wie der Grundton des gesamten Geschichtenbandes auch gedämpfter als sonst bei Fuchs üblich ist. Zum Schieflachen gibt es nicht so viel, das hat sie bei Facebook ihrer Fanbase selbst angekündet, weil sie eben auch andere Sachen schreibe als das, wofür sie als Berliner Lesebühnen- und Youtube-Star, als Kinder- und Jugendbuchautorin, als Romanschriftstellerin, Kolumnistin, Dramatikerin und fleißige Twitterin so bekannt geworden ist. Ewig hätten diese Geschichten in ihrer Schublade gelegen, schreibt sie, und werden jetzt fast zeitgenau mit der Geburt ihrer zweiten Tochter ins Leben hinausgeworfen.
Die Stimmung ist eher gemischt, lustig und traurig
Als Kurzfazit lässt sich sagen, dass Kirsten Fuchs, Jahrgang 1977, geboren in Karl-Marx-Stadt, heimisch in Berlin, auch die leiseren Töne beherrscht, oder vielleicht ist es umgekehrt, vielleicht ist sie mit ihren lustigeren Geschichten aus dem Alltagsleben so gut, weil sie das Leisere, das Andersartige eben auch drauf hat. Ganz humorfrei geht das natürlich auch diesmal nicht. Das würde gar nicht zu ihrem Schreibstil passen. Die Stimmung ist eher gemischt, lustig und traurig, und leiser und wütender und trotziger zugleich. Fiktion und Autobiografisches wechseln sich in diesem Band ab, wobei ihr bei persönlichen Erfahrungen der schwierige Balanceakt gelingt, genug Nähe herzustellen, ohne sich selbst zu sehr preiszugeben.
Da taucht an mehreren Stellen das Mädchen auf, das beim Mauerfall erst zwölf Jahre alt war und das die DDR bei ihrem Zusammenbruch doch „sehr geliebt“ hat, was ihr jetzt schrecklich peinlich ist. Ein anderes Mädchen verliebt sich wunderschön auf den Färöer Inseln, eine Jugendliche plant relativ nüchtern den ersten Sex mit ihrem Freund, aber es kommt ganz anders und das ist schön. Da ist auch die Geschichte des erwachsenen Pärchens, das ausgerechnet zu Weihnachten Freunde in dem damals noch friedlichen und als relativ fortschrittlich geltenden Syrien besucht. Wegen aller möglichen Verständigungsprobleme kaufen sie eigentlich die ganze Zeit nur kiloweise Datteln und warten auf den als für eine Syrienreise als zwangsläufig erachteten Durchfall, was beinahe schon zum gruppenpsychologischen Event wird. Anna und Pierre, das besuchte Freundespaar, kann man im Übrigen bei Bedarf in Kirsten Fuchs’ Reiseblog unter www.Welt-und-Kind.de in Fortsetzung ein paar Jahre später auch noch mal in Marokko wiedertreffen. Da ist Fuchs mit ihrer Tochter kurz vor der Einschulung und mit neuem Partner hingereist.
Eine besonders eindrucksvolle und vielleicht die realitätsnaheste Geschichte im Buch ist „Keinjobcenter“, in dem Fuchs den Behördenwahnsinn, die Demütigung, die Unfähigkeit der Arbeitsagenturen beschreibt. Die Antragstellerin weiß hier von Anfang an, dass ihre Situation sich bald wieder verbessern wird, sie weiß, dass es nicht ihr Dauerschicksal ist, ein Aufstocker zu sein, weshalb sie auch wesentlich respektvoller behandelt wird, was Fuchs ziemlich passend mit Privat- versus Kassenpatienten beim Arzt vergleicht. „Ach, Autorin? Das ist ja spaaaanend“, heißt es von der Bearbeiterin bei ihr. So spannend, dass das Geld tatsächlich ankommt, solange es gebraucht wird, ist es dann aber trotzdem nicht, weil ein natürlich irgendein Formular verloren geht. „Papiere gingen hin und her, aber nicht diese Papiere, die wir als Geld benutzen.“ Das Aufstockungsgeld wird erst ausgezahlt, als es eigentlich schon gar nicht mehr benötigt wird. „Eine gute Idee ist es, gegen einen Strommast zu pullern, aber nicht, zum Jobcenter zu gehen, wenn man Hilfe braucht.“
Besser ist, wer Freunde hat, um das zu überleben. Was aber ist mit der Mutter, die sie auf dem Flur des Jobcenters beobachtet hat, die die Kinder mitbringen muss, obwohl es keine Spielecke gibt, die die Namen der beiden auf ihre Fußknöchel tätowiert hat? Fuchs lässt in einer Vision die Bäume der Stadt und ganz Brandenburgs auf ihren Wurzeln gegen die Papierverschwendung und Gängelung durch alle unnötigen Antragsformulare in einer großen Demonstration aufmarschieren.
Ob der Horroraufenthalt eines jungen Mädchens mit ihrem Hund auf einem abgelegenen Campingplatz oder die bekannte Situation, in der S-Bahn in der Nähe eines Obdachlosen zu sitzen, der wahnsinnig schlecht riecht, man nicht weggehen will, es aber auch nicht aushält da sitzen zu bleiben, Fuchs holt ihre Leser in aller Ratlosigkeit auch in den unangenehmsten Situationen ab.
In der Geschichte „Wolfsburg“ besucht ein Journalist einen Musiker für ein Interview und bekommt stattdessen eine Geistergeschichte erzählt, oder vielmehr berichtet der Musiker, wie der vormalige Besitzer seines Hauses ihn heimsucht, um ihm immer wieder von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen. Es geht ums Töten in den Dörfern während des Zweiten Weltkrieges, das Drauflosschießen, bei dem der Soldat, der jetzt als Geist erscheint, immer die Augen zugemacht hat, weshalb er auch kein Augenzeuge ist.
„Wir sind nichts geworden und darauf stolz“
„Signalstörung“ ist ein schmaler Band mit vielen Geschichten, die hängen bleiben, gerade wenn Fuchs die Perspektive anderer Lebenswelten annimmt. „Wir sind nichts geworden und darauf stolz. Das muss man karrieremäßig auch erstmal durchziehen in so einer Welt, wo dich alle drängen, was zu werden“, sagt der Berliner Ex-Trinker, der jetzt die Kneipe putzt. Er war ein großer Trinker, sagen sie manchmal zu ihm, und das klingt fast so, „als wäre das seine Karriere gewesen“.