Kultur

Sehnsuchtsklänge und Hardrock-Geschrammel

| Lesedauer: 3 Minuten
Georg Kasch

Zwänge und Fliehkräfte in einer postmigrantischen Gesellschaft: Tamer Yigits „Berlin-DNA“ bringt den harten Großstadtalltag ins HAU2

Eine Stadt ist wie ein Obstgarten: Alles ist angelegt, bereit zu wachsen und zu blühen. Aber was genau damit passiert, ob der Garten sich entwickelt oder ob er eingeht, das liegt in der Hand der Gärtner bzw. der Bewohner. So ungefähr erzählt es der alte Mann im Video, mit dem Tamer Yiğits neuer Abend „Berlin-DNA“ am Hebbel am Ufer beginnt. Sowohl der Titel als auch der Ankündigungstext versprechen Großes, ein Stadt-Panorama wie Walter Ruttmanns legendärer 20er-Jahre-Stummfilm „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“, eine epische Spurensuche nach der Vielstimmigkeit der Metropole.

Auf der HAU2-Bühne stehen etliche Metallspinde, von einigen prangen Graffiti und Tags. Später bilden sie den Hintergrund für die Videobilder, Ansichten des alten Kreuzberg zum Beispiel. Rechts haben sich um Yiğit, der einmal mehr Autor, Regisseur und Musiker des Abends ist, Marwan Soufi an der Oud-Laute, Valentina Bellanova an der Nay-Flöte und Johann Christoph Maass am Schlagzeug niedergelassen. Von hier aus dirigiert Yiğit den Abend, stürzt sich in teils hinreißende, teils pa- thossatte Musiknummern, Sehnsuchtsklänge und Hardrock-Geschrammel. Von hier aus nimmt er immer wieder Kontakt auf zum Mann am Licht und anderen im Publikum, so dass man sich bald so fühlt, als säße man als Fremder in einer verschworenen Gemeinschaft. Von hier aus erzählt er auch von seiner Terrororganisation Kreuzberg, mit der er angeblich im Osten der Stadt Glatzenklatschen gegangen ist, bis ihm irgendwann klar wurde, dass man auch aus unpolitischen Gründen kurze oder gar keine Haare haben kann.

Daneben, im Spotlight, stehen drei Frauen, Bühnenneulinge, deren Sätze mikroportverstärkt durch die Boxen dröhnen. Nilay Bugur ist auch im echten Leben Polizistin und erzählt von ihrer Arbeit im Kiez. Über Frust mit der Justiz, die Kleinkriminelle wieder laufen lässt. Über ihr gespaltenes Verhältnis zum Görli: „Alle kiffen, aber keiner will den Dealer vor der eigenen Haustür haben.“ Über den Terror am Breitscheidplatz, von dem sie sich nicht vereinnahmen lassen will: „Das ist mein Berlin!“

Starke Momente, weil Bugur mit Dringlichkeit und Witz erzählt, eine coole Führerin durch ein Berlin, das nahe am Alltagsleben ist. Wenn sie ihre Verwandten anfleht, sie nicht mehr zu Hochzeiten einzuladen, weil sie sich die Geschenke nicht leisten kann und der immergleichen Visagen überdrüssig ist, dann ist das nicht nur ein komischer Rant-Höhepunkt, sondern erzählt auch viel über die Zwänge und Fliehkräfte einer postmigrantischen Gesellschaft. Aylin Shorty Bugur als coole, wilde Sprayerin hingegen muss sich lange durch eher essayistisch-poetische Texte quälen („Das Herz ist gefickt“), bis sie endlich als berlinernde Spätibesitzerin eine kabarettistische Glanznummer hat. Semra Kartal bleibt als Übersetzerin zwischen den Sprachen und Welten blass. Gemeinsam bilden sie eine lässige Clique, witzeln rum, trinken Raki.

Was macht den Lebensstrom unserer Stadt aus, was ist seine DNA? Yiğit kommt in seinem rau zusammengetackerten Nummernabend zu einem überraschenden Ergebnis: Berlin ist eine Stadt der Frauen, die den urbanen Garten zusammen und in Blüte halten. Was eine schöne These ist, vielleicht aber auch nur das Ergebnis eines Projekts, das mal mit großen Fragen begann und als anekdotischer Kiezabend endet.

HAU2, Hallesches Ufer 32, Kreuzberg. Karten: 25 90 04 27, Aufführungen am heutigen Montag, Dienstag