Kultur

Videos, Kassetten und die Spice Girls

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Paulina Czienskowski

Die 90er-Jahre liegen zwischen Kult und Trash. Wie waren sie wirklich? Ein Gespräch mit Ricarda Messner und Andre Harris

Waren die 90er-Jahre tatsächlich nur glitzernd, pink und voller Freiheit? Die Berliner Ricarda Messner (28) und An­dre Harris (32) sehen das nicht so. Am heutigen Donnerstag wollen sie das in der Bob’s Pogo Bar in den Kunst-Werken in Mitte mit einem bunt zusammengewürfelten Kollektiv aus Künstlern und Besuchern diskutieren.

Die 90er-Jahre für Sie in einem Satz?

Ricarda Messner: Mein erster und bis dahin einzig großer emotionaler Zusammenbruch, an den ich mich erinnere: der Tod von Lady Diana.

Andre Harris: Das Medienmonster wird geboren. (lacht)

Wieso interessiert Sie gerade dieses Jahrzehnt?

Messner: Weil ich glaube, dass die meisten diese Zeit, so wie auch wir, nicht wirklich definieren können. Und es ist das Jahrzehnt unserer Kindheit. An was erinnern wir uns, an was nicht.

Harris: Alles damals ging schnell und doll, alles schien irgendwie zu prosperieren: Medien, Wirtschaft, Prominenz, Informationen. Dabei vergessen wir aber, dass es auch kritische Momente gab.

Sie beide sind 6000 Kilometer entfernt voneinander aufgewachsen – in Berlin, auf Jamaika und in New York. Was hat Sie auf die 90er-Jahre als Thema gebracht?

Harris: Wir hatten über „Kids“ geredet, einen Film von Larry Clark, der 1995 erschien.

Messner: „Kids“ beschreibt die Jugendkultur im New York der 90er-Jahre, in der Hip-Hop, Skateboardfahren, Partys, Drogen und Sex eine wesentliche Rolle spielen.

Zeigt er exemplarisch, was damals der Tenor war?

Harris: Indirekt, ja. Er zeigt eine Welt, die es so in der Realität nicht gab, proklamierte oder verkaufte sie aber als real.

Messner: Und genau das ist, was bei uns die grundlegende Frage aufgeworfen hat: Haben die 90er-Jahre einfach überall und jedem eine Realität gezeigt, die eigentlich gar nicht den Kern des Realen getroffen hat?

Also hat das Jahrzehnt vorgegeben etwas zu sein, was es gar nicht war.

Messner: Es gab überall die Versuche, bestehende Stereotype aus dem Weg zu räumen, sich möglichst liberal, demokratisch und freiheitlich zu zeigen.

Harris: Dabei wurde alles nur sehr eindimensional gedacht.

Gut gemeint, aber schlecht umgesetzt.

Messner: Genau das sieht man gut am Konzept Girl- und Boyband, in denen jeder Typ vertreten ist, um eben niemanden auszuschließen. Denken Sie mal an die legendären Spice Girls. Da war alles bloß konstruiert, völlig artifiziell, und niemand kam aus seiner Rolle heraus. Damit wurden am Ende Klischees nur reproduziert.

Harris: Damals haben wir das natürlich nicht gesehen, sondern es als fröhliches Miteinander verbucht.

Liegt unser Leichtsinn auch daran, dass es nach dem Kalten Krieg, mit dem Fall der Mauer, kein historisches Ereignis in der westlichen Welt gab?

Messner: Wahrscheinlich schon, wobei das viel zu kurz gedacht ist. Jeder konnte zwar seine eigene Welt erschaffen, machen, was er wollte, weil es eben ging. Dabei wurde aber das Gesamtbild ignoriert. Denken wir doch nur mal an den Krieg im Kosovo. Ich habe mich selbst dabei ertappt, wenn ich sage, dass wir seit 70 Jahren keinen Krieg mehr in Europa gehabt haben.

Harris: Dieses Gesamtbild haben wir im Kollektiv erst wieder 2001 wahrgenommen, beim Terroranschlag 9/11. Für mich das eigentliche Ende der 90er-Jahre. Die Erinnerung, dass eben doch nicht alles schön bunt ist.

Messner: Die realitätsferne Welt der 90er-Jahre war dann am Ende bloß der Nährboden für alles, was danach kam.

Um kurz beim Nährboden zu bleiben: Taschen in der Mode sollen damals auch deshalb so groß gewesen sein, um das ganze Geld darin zu verstauen.

Messner: Ich erinnere mich, dass es bei den meisten ökonomisch ziemlich gut lief. Club-Urlaube, All-you-can-eat, Konsum war auf allen Ebenen großgeschrieben und auch total okay – hat ja jeder so gemacht. Die 90er-Jahre waren zu einem großen Teil eine ökonomische Blase für die westliche Welt. Eine wahnsinnig narzisstische Zeit.

Harris: Nach dem Ende des Kalten Krieges, als die Mauer gefallen war, waren die meisten wahnsinnig euphorisch.

So war es ja auch.

Harris: Klar, man hatte plötzlich alles. Allein den Zugang zur Welt über Kabel, der alle miteinander verband …

Messner: … oh ja, Privatfernsehen, kon­stantes Entertainment! „Top of the Pops“, „Wetten, dass..?“. Das waren regelrecht Events für mich. Um am nächsten Tag mitreden zu können, musste man das schon gucken.

Harris: Und auf den unzähligen Kanälen war für jeden immer etwas dabei. Disney Channel, MTV, Nachrichtensender. Auch da wieder die vermeintliche kulturelle Demokratisierung.

Was aus den 90er-Jahren ist an Ihnen persönlich haften geblieben?

Harris: Meine Liebe zu Videos und Kassetten.

Messner: Starkult! Wie die Medien mit Kraft aus ihnen Identifikationsfiguren gemacht haben. Die Faszination für diese angeblichen Übermenschen wurde ständig über den Fernsehbildschirm intensiviert. Heute ist das durch die sozialen Kanäle natürlich alles dezentralisiert, man braucht keine „Bild“ oder „Gala“ mehr, um seine Stars zu verfolgen – Instagram reicht.

Kunst-Werke, Auguststraße 69, 22. Februar, 20.30 Uhr. Anmeldung erforderlich: bobspogobar@kw-berlin.de