Marcel Kohler sitzt in einer der Nischen der Kantine des Deutschen Theaters. Eigentlich sind die nicht dazu da, um dort Platz zu nehmen. Aber Marcel Kohler wurde vom Fotografen darum gebeten. Wohin mit den Beinen? Der Schauspieler ist knapp zwei Meter groß, auf Gruppenfotos steht er meist hinten oder am Rand. Die Mütze würde er lieber auflassen. Wer weiß, wie die Haare liegen. Zuhause habe er keinen Spiegel, sagt Kohler. Er ist 26 Jahre alt. Seit Februar 2015 festes Ensemblemitglied, da war er der jüngste. Kohler kam direkt von der Ernst-Busch-Hochschule ans Deutsche Theater, das kommt nicht so oft vor. Mittlerweile ist er auch Ensemblesprecher und hat etliche Auszeichnungen bekommen. Er wurde von Kritikern zum Nachwuchsschauspieler des Jahres 2016 gewählt, zuletzt bekam er den Publikumspreis der Theatergemeinde. Wenn man so jung schon so erfolgreich ist, was soll da noch kommen?
„Hoffentlich noch viel“, sagt Kohler und lacht. Er freut sich darüber, „so viel Bestätigung am Anfang zu bekommen. Das zeigt, dass der Weg der richtige ist.“ Einen Plan B hatte er nicht. Wäre er an der Hochschule nicht genommen worden – und so ergeht es vielen –, hätte er was anderes gemacht. Aber das wäre schade gewesen.
„Erweckungserlebnis“ in Inszenierung von Thalheimer
Im Hause Kohler waren eher Literatur und Musik angesagt. Die Eltern waren keine großen Theatergänger – was sich dank des Sohnes geändert hat. Marcel lernte ein Instrument, mit 14 hörte er auf, aus „jugendlicher Hybris“, wie er sagt. Er zog das Schauspiel vor, aktiv und passiv, ging regelmäßig ins Staatstheater Mainz, die örtliche Bühne. Und sah im nahen Frankfurt eine Inszenierung von Michael Thalheimer, der mit seinem Vier-Stunden-Antike-Doppelabend „Ödipus“ und „Antigone“ die Intendanz von Oliver Reese eröffnete. Für Kohler so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Es bestärkte ihn, seinen Weg zu gehen. Und als im vergangenen Sommer zum Ende der Ära Reese, der ans Berliner Ensemble wechselte, „Ödipus“ draußen vor der Stadt mit der Frankfurter Skyline im Hintergrund zum Abschied gezeigt wurde, hat er ihn sich nochmals angesehen. Acht Jahre, eine Schauspielausbildung und viele Auftritte später: Alles entzaubert? „Nein“, sagt Kohler, „aber so einen naiven Zugang, den habe ich leider verloren.“
Natürlich erwartet man von einem Schauspieler eine Aussage wie: „Theater ist schon ein Ort, an dem ich mich gerne aufhalte.“ Aber Kohler sieht sich auch viel an, nicht nur am eigenen Haus, um „nicht zu sehr im eigenen Dunstkreis zu bleiben“. Als er kürzlich zwei Tage in Wien war, hat er sich drei Sachen angeschaut und zwölf Stunden im Theater verbracht. Sein Kommentar dazu: „Das macht mir schon Freude.“
Männer auf Leitungsposten im Theater haben es momentan nicht leicht
Als Ensemblesprecher, er wurde wiedergewählt, was auf eine gewisse Zufriedenheit der Kollegen schließen lässt, möchte er auch außerhalb des Hauses wirken. Ihm schwebt eine bessere Vernetzung der Ensembles vor, ein engerer Austausch, auch wenn die Bühnen unterschiedliche Schwerpunkte haben, „machen wir ja alle Theater“. Es gebe Konkurrenz, aber „die muss man ja nicht weiter befördern“, so Kohler, der an seinem Intendanten die „kommunikative Art schätzt, mit der Ulrich Khuon das Haus führt“.
Männer auf Leitungsposten im Theater haben es ja momentan nicht leicht, die Debatte um Quoten und einen höheren Anteil von Regisseurinnen hat auch die Bühnen erreicht. Kohler „hält den Kampf dafür wichtig“. Gleichberechtigung ist für ihn, generations- oder sozialisationsbedingt, eine Selbstverständlichkeit.
Aktuell befindet sich Kohler gerade in den Endproben zu „Sommergäste“. Das Stück von Maxim Gorki aus dem Jahr 1904 hat am Freitag im Deutschen Theater Premiere. Es ist die zweite Zusammenarbeit Kohlers mit der Regisseurin Daniela Löffner. Die erste endete beglückend: „Väter und Söhne“ nach dem Roman von Iwan Turgenjew wurde 2016 zum Berliner Theatertreffen eingeladen, Kohler erhielt für seine Rolle des Arkadij Nikolajitsch Kirsanow den Alfred-Kerr-Darstellerpreis. Jurorin Maren Eggert sagte bei der Laudatio auf den damals 24-Jährigen: „Dann sehe ich Marcel Kohler in ,Väter und Söhne‘.
Marcel Kohler ist kein Blender. Er ist einfach da
Diese Begegnung ist keine mit Knalleffekt. Ich werde vielmehr ganz langsam im Laufe des vier Stunden andauernden Abends auf ihn aufmerksam. Denn Marcel Kohler ist kein Blender. Er ist einfach da. Er stellt sich zur Verfügung. Sein Spiel ist gänzlich unkorrupt und dadurch: jung. Er will einfach nur seine Figur verteidigen. Und dann denke ich, mehr braucht ein begabter Schauspieler eigentlich auch nicht, nur einen Abend, an den er glauben kann, und eine Figur, die er verteidigen möchte. Und einen Regisseur, in diesem Fall die Regisseurin Daniela Löffner, die ihn lässt.“
Jetzt also die „Sommergäste“. Im Stück langweilt sich eine Gruppe Intellektueller in der Sommerfrische. „Die haben alles, keine sozialen Nöte, stehen ,im Saft‘ und haben trotzdem das Gefühl, das irgendwas fehlt. Die Leute reden viel, kommen sich nicht wirklich nahe“, sagt Kohler. Er spielt Wlas, den Bruder der Anwaltsgattin Warwara, er „agiert aus dem Hintergrund“.
Es dürfte ein Abend im Stil des Erzähltheaters werden. Das galt zwischenzeitlich als etwas antiquiert, aber jetzt, wo vielerorts eine Postmoderne à la Castorf eingezogen ist, ist es fast wieder modern. Allemal aus der Perspektive eines 1991 Geborenen, für ihn ist die Castorf-Ästhetik das Etablierte.
„Da gibt es immer etwas Neues zu entdecken“
Zu Kohlers Lieblingsstücken am Deutschen Theater gehören die letzten Arbeiten des verstorbenen Jürgen Gosch. „Onkel Wanja“ und „Die Möwe“ hat er sich schon häufiger angeschaut, da „gibt es immer was Neues zu entdecken“. Allein Jens Harzer – der sonst in Hamburg spielt – sei ein Argument, „ins Theater zu gehen“.
Marcel Kohler gibt sich bescheiden. Natürlich ist auch er ein Grund, ins Theater zu gehen.