Berlin. Am Sonntagabend ist das 19. CTM-Festival im Hebbel am Ufer gestartet und bringt für eine Woche Gespräche und Clubnächte in die Stadt.
Zischen und Stottern, Flüstern und Kreischen. Schimpfdialoge in einer Sprache, die halb polnisch, halb fantastisch klingt – so beginnt das Eröffnungskonzert des diesjährigen CTM-Festivals im fast völlig dunklen Hebbel am Ufer. Zorka Wollny verteilt ihren Chor im Zuschauersaal, der als Auftragswerk gleich zu Beginn „abenteuerliche Musik“ liefert – so der Untertitel des Festivals. Eher ein Heranrobben ans Musikalische ist das, als würden die ersten Klänge der 19. Ausgabe des CTM sich aus einem akustischen Urschlamm herausarbeiten, aus etwas, das vor jeder Artikulation liegt.
Über zwanzig Minuten hinweg steigern sich Lautstärke und Intensität, doch alles, was die zwanzig Sängerinnen und Sänger produzieren, schrammt mit Absicht bloß an der Grenze zum Gesang entlang, verschwindet dann bei geöffneten Türen im den Saal umlaufenden Flur – als sei draußen ein Aufstand im Gange, dessen Ziel man nicht ganz fassen kann. Klingt das auch manchmal nach etwas, das in den 80er Jahren neu geklungen hätte, stellt es doch den perfekten Einstieg in ein Festival, das zehn Tage lang die Grenzen dessen, was Musik heute sein kann, erforscht.
Das CTM-Festival ist ein Sammelpunkt experimenteller Musik
Das CTM gilt zu Recht als einer der bedeutendsten Sammelpunkte für experimentelle Musik weltweit. Noch bis Sonntag, den 4. Februar gibt es neben Konzerten Installationen, Performances, Gesprächsrunden, eine Ausstellung – und Clubnächte, damit das Hirn nicht überhitzt. Alles dreht sich um „Turmoil“ – Tumult: Verwerfungen, wie sie bedrohlich die Politikbühne der Gegenwart bestimmen, sagt Festivalgründer Jan Rohlf. Aber auch um die Chance einer Schönheit des Tumults – um unterschiedliche Formen von Kunst, die sich unterm Druck der Gegenwart öffnen müssen, künstlerische Antworten zu suchen auf diese wirren Zeiten. „Unbehagliche Zeiten erfordern unbehagliche Musik“, verkündet Rohlf auf der Bühne des HAU.
Dass solch politisch-avancierte Herangehensweise nicht in puren Klangstress ausufern muss, der den Zustand der Welt bloß spiegelt, beweist der zweite Teil des Eröffnungskonzerts. Jace Clayton, bekannter als DJ/rupture, widmet sich zwei Stücken des schwulen afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman, der nach verheißungsvollem Beginn – Konzerte in der Carnegie Hall, Zusammenarbeiten mit John Cage, Meredith Monk und Pierre Boulez – 1990 verarmt und obdachlos in New York starb. Eine wahre Antikarriere, made in USA. Nach Jahrzehnten wird Eastman langsam wiederentdeckt: eine wunderbar organische Musik zwischen Minimalismus und Pop, manischen Wiederholungen und federnden Grooves.
Wie der Kopf eines kollektiven Wesens steht Jace Clayton an Mini-Mischpult und Tablet, vor ihm an zwei Flügeln Emily Manzo und David Friend. Sie spielen Eastmans Stücke „Evil Nigger“ (1979) und „Gay Guerilla“ (1980) – weit weniger plakativ als deren Titel nahelegen. Triller-Berge, langsam gegeneinander verschoben, immer wieder aufgefangen von so etwas wie Refrains. Clayton mischt behutsam verfremdete Pianoklänge bei: Zerren und Hall wandern durch den Raum wie Geister aus der Vergangenheit. Elektronik und Akustik durchdringen einander. Aus reinen Steigerungen, mit Handflächen auf die Klaviatur geschlagen, entsteht eine fast singbare Klarheit.
CTM-Festival – noch bis 4.2., u.a. in HAU, Berghain, Akademie der Künste, Festsaal Kreuzberg, Kraftwerk Berlin. Mit DAF, Holly Herndon, Laurel Halo, Jlin, Recondite, Klitclique u.v.a. Ausstellung „Uncanny Valleys of a Possible Future“ bis 2.4. im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2