Kultur

Paavo Järvi gastiert mit seinem Estonian Festival Orchestra

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Julia Kaiser

Das Estonian Festival Orchestra (EFO) wurde vom Dirigenten Paavo Järvi (55) im Jahr 2011 gegründet – aber nicht in der estnischen Hauptstadt Tallinn, sondern im Sommerbad Pärnu, an der Westküste des baltischen Staates. Jetzt ist das Orchester auf seiner ersten Tournee durch Europa, am Montag gastiert es in der Philharmonie. Als Solistin ist bei Sibelius’ Violinkonzert Viktoria Mullova zu erleben. Das Gespräch mit dem Dirigenten fand in Pärnu statt.

Das Zentralwerk Ihrer Tournee ist die 6. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Der Komponist war zwar kein Este, aber sein Name ist mit Pärnu verbunden?

Paavo Järvi: Wie viele Musiker und Künstler der Sowjetzeit verbrachte Schostakowitsch seine Sommer in Pärnu, das ja als Erholungsort bekannt war. Andere Urlauber suchten das tropische Klima am Schwarzen Meer, doch wer sich in den Ferien näher an Europa begeben wollte, der kam nach Estland. Ich selbst bin Schostakowitsch begegnet, als ich zehn Jahre alt war, zusammen mit meinem Vater. Aber auch Leute wir Rostropowitsch, David Oistrach, Gennady Rozhdest­vensky und viele andere Musiker kamen hierher. Denn Estland hatte nicht wie andere Länder den Kontakt zu Europa ganz verloren. Auch unsere estnische Mentalität ist eine europäische, eher nordisch als slawisch, als Nachbarn eher Finnland gesehen als Lettland.

Zum Auftakt erklingt ein Werk des Esten Arvo Pärt: „Cantus in Memoriam Benjamin Britten“. Der englische Komponist Britten war Pazifist. Haben Sie jetzt eine Friedensbotschaft im Gepäck?

Nicht eine Botschaft des Pazifismus, jedoch eine der Einheit. Offiziell feiern wir Esten jetzt unsere 100-jährige Unabhängigkeit, aber hier haben schon Tausende von Jahren Menschen gelebt. Um die Unabhängigkeit zu erlangen, muss ein Volk durchaus etwas Kämpferisches haben. Weniger im kriegerischen Sinne, denn dazu sind wir viel zu wenige. Eher im Sinne eines intelligenten und erfindungsreichen Widerstandsgeistes, der in unseren Künsten Ausdruck findet.

Der Tourneestart fand in Brüssel statt. Ist das ein politisches Statement?

Als ich das Orchester gegründet habe, war mir klar: Ich will damit keine politische Aussage treffen. Politisch ist im Übrigen schon jede Ebene des Projektes. Schon dass wir Estland im Namen tragen. Und wenn man ein estnisches Orchester hat, das aus vielen Nationalitäten besteht, dann ist das auch ein Statement. Und letztlich widerspricht eine politische Äußerung dem Verständnis von Inklusivität, die ich hier als Hauptprinzip voranstelle. Niemand fragt, wo der Pultnachbar herkommt. Ich glaube daran: Alle Musiker sind Brüder, ganz gleich aus welchem Land und mit welcher politischen Meinung. „Alle Menschen werden Brüder“, davon sind wir in unserer Zeit leider noch ein Stück entfernt, aber auf der Bühne findet das schon statt.