Man denkt unwillkürlich an Günter Schabowskis fahrige Pressekonferenz vom 9. November 1989, wenn man einen Satz wie den folgenden liest: „Revolutionen sind keine notwendige, sondern eine mögliche Antwort auf den Niedergang eines Regimes, sie sind nicht Ursache, sondern Folge des Verfalls politischer Autorität.“
Zwischen der unbeabsichtigten Grenzöffnung durch den damaligen Berliner SED-Bezirkssekretär und dem Satz liegen mehr als 20 Jahre, und heute liest er sich fast wie eine Prophezeiung. Hannah Arendt, die Blicke in die Zukunft gern als bloße Projektionen abtat, hätte hier sicher wütend widersprochen. Und doch lässt sich sagen, dass ihre Analyse zeitlose Gültigkeit beanspruchen kann.
Der nicht viel mehr als 40 Seiten umfassende Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ aus der Feder Hannah Arendts war einer breiteren Öffentlichkeit bislang unbekannt. Nachdem ihn Jerome Kohn, ein Schüler, Assistent und Freund Arendts, im Nachlass gefunden und im englischsprachigen Original ins Netz gestellt hatte, ist er nun in deutschsprachiger Übersetzung erschienen.
Arendt, geboren 1906 in Linden, einem späteren Ortsteil Hannovers, 1933 von den Nazis zur Emigration in die USA gezwungen, hat in ihren philosophischen Texten immer wieder die Themen umkreist, die auch hier im Zentrum stehen: die Revolution und die Freiheit. Das hat zum einen ganz handfeste biografische Gründe, denn sie war Zeitzeugin einer ganzen Reihe versuchter und erfolgreicher politischer Umstürze: Die russische Revolution von 1917, die niedergeschlagene „Münchener Räterepublik“ von 1919 oder die „Große Proletarische Revolution“ in China 1966 sind nur wenige Beispiele von Ereignissen ganz unterschiedlicher Prägung, die für Arendt zur philosophischen Herausforderung wurden.
Zum anderen ist der Freiheits- vom Revolutionsbegriff bei Arendt nicht zu trennen. Aber welche Freiheit ist genau gemeint? Elementar ist hier die Unterscheidung zwischen einem negativen Verständnis von Freiheit – also der Abwesenheit von Knechtschaft, Bevormundung und anderen Einschränkungen menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten – und der Freiheit zu politischer Teilhabe. Man weiß schon aus Arendts früheren Schriften, dass sie – inspiriert von der freien Rede freier Bürger im klassischen Griechenland – die Freiheit des Individuums erst im freien politischen Handeln ganz verwirklicht sah.
Wer mit den Grundzügen ihres Werks – etwa mit den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ (1951) – vertraut ist, wird hier vieles vorfinden, was ihm schon vertraut erscheint. Insofern ermöglicht er vor allem eine Wiederbegegnung mit der ebenso brillanten wie präzisen Essayistin Hannah Arendt, deren Texte noch heute einen verblüffenden Sog entfalten. Sie zu lesen bedeutet, die Gegenwart besser verstehen zu können.
Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer.
dtv, 64 Seiten, 8 Euro.