Als der Mann eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich auf dem Weg ins Büro in den zweitobersten Knopf der Bluse der Empfangsdame Jenni verwandelt. Also fast, zumindest spielt er ernsthaft mit dem Gedanken, dies zu tun und hat damit die deutlich attraktivere Option als Kafkas Gregor Samsa, der bekanntlich eines Morgens zum Käfer wurde.
Für unseren Mann ist es der Beginn eines uneingeschränkt kafkaesken Tages, der am Abend darin gipfelt, dass er, als er nach Hause kommt, bereits da ist. Dass da jedenfalls einer ist, der schon mit seiner Familie am Tisch sitzt. Ausgedacht hat sich dieses surreale Setting Roland Schimmelpfennig. „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ heißt sein Auftragswerk für das Deutsche Theater, das dort jetzt unter der Regie von Anne Lenk in den Kammerspielen als Uraufführung zu sehen ist.
Bevor wir Zuschauer nähere Bekanntschaft mit dem Mann und seiner Familie machen, werfen wir einen Blick in seine Traum- und Fantasiewelt. Dafür hat die Bühnenbildnerin Judith Oswald oberhalb von fünf breiten Stufen, auf denen sich das Familienleben abspielt, einen Guckkasten aufgebaut mit einem glitzernden Vorhang davor. Als der sich erstmals öffnet begegnen wir unter anderem: einem Plüsch-Gorilla, einem Strohhaufen-Monster und Jennis sehr großem Blusenknopf. Ein ziemlich wilder Gegensatz zu der biederen, pastelligen Familie im Bundfalten- und 50er-Jahre-Look, die sich darnach am vorderen Rand der Bühne aufstellt.
Schimmelpfennigs Text ist ein Möglichkeitsspiel, ein Identitätsexperiment und dafür müssen die Optionen möglichst stark abweichen von der Realität. Tatsächlich sind der andere Mann und die andere Frau, die später auch noch dazukommt, exzentrische, ausschweifende Alter Egos des Ursprungspaars. Sie schlafen nackt, sie haben aufregenden Sex, sie trauen sich was.
Regisseurin Anne Lenk greift mit ihrem Ensemble nach allen Möglichkeiten, die dieser etwas dünne Text bietet. Der kleine, nur 70-minütige Abend punktet nicht gerade mit großen menschlichen Erkenntnissen, aber er ist federleicht und präzise inszeniert und deshalb ziemlich unterhaltsam.
Die Männer (Camill Jammal/Elias Arens) und die Frauen (Franziska Machens/Maike Knirsch) spielen staunend und übermütig ihre Möglichkeiten aus. Die Kinder (Tabitha Frehner und Jeremy Mockridge) spulen kommentierend die Zeit vor und zurück oder halten sie an. Gemeinsam vergrößern sie die Realität ins Surreale, man trinkt hier aus Wassergläsern mit dem Durchmesser eines Hula-Hoop-Reifens.
Anne Lenk baut ihnen knallbunte Traumräume ins Spießer-Universum und lässt die Frage offen, was mit dem Wissen um all die unterdrückten Identitätspartikel nun anzufangen sei. Am Schluss sitzen sie wieder gemeinsam am Esstisch. Fast wie immer, nur dass da jetzt eben noch zwei nackte Unangepasste dabei sind, die ungehemmt zur Bierflasche greifen und den Finger ins Marmeladenglas stecken. Höchstwahrscheinlich werden sie die nie wieder los.
Deutsches Theater (Kammerspiele), Schumannstr. 13a, Mitte, Kartentel. 28 441 225. Nächste Termine: 19.1. und 28.1., je 20 Uhr.