Kultur

Die Neunte im Klanggewand des Fin de Siècle

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Matthias Nöther

Vladimir Jurowski bricht mit dem Götterfunken-Ritual

Im ausverkauften Konzerthaus am Gendarmenmarkt erklingt zum Jahreswechsel Beethovens Neunte Sinfonie – gespielt vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, erstmals dirigiert vom neuen Chefdirigenten Vladimir Jurowski. Die Neunte präsentiert Jurowski im Klanggewand des Fin de Siècle, mit den Orchester-Retuschen des einstigen Wiener Hofoperndirektors Gustav Mahler. Damit klingt die Sinfonie zuallererst einmal lauter, mit Tuba (dem Klassiker Beethoven unbekannt), mit zusätzlichen Trompeten und einem riesigen, eben mahlerschen Streicherapparat. Das muss man erst einmal koordinieren. Jurowski gelingt dies klangschön und akzeptabel, wenn auch einige Phrasenenden in Streichern und Hörnern hörbar ausfransen. Sicher ist: Der Versuch ist verdienstvoll, jedoch nicht zur Nachahmung empfohlen. Das Zeitalter der monumentalistischen Klassiker-Auslegung um 1900, an dessen Auswüchsen sich gerne auch noch die Kulturbonzen von Hitler und Stalin bedienten, ist glücklich überwunden. Dennoch, an einigen Momenten in Gustav Mahlers Orchestrierung hätte auch der alte Beethoven sein Gefallen gefunden. Der bestens aufgelegte Rundfunkchor kann das Orchester nicht mehr plattsingen, die stürmischen Fugati des „Freude schöner Götterfunken“ erhalten plötzlich Struktur. Und dass Mahler im Tschingderassabum von Beethovens Janitscharen-Marsch („Froh, wie seine Sonnen fliegen“) eines seiner berühmten Fernorchester einsetzt, ist nur mehr kongenial zu nennen.

Doch an welcher Stelle erklingt an diesem Abend eigentlich Arnold Schönbergs düsteres Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“, auf welches all diejenigen neugierig sind, die keine Lust auf die konfliktfreie Jahresend-Hymne angesichts eines konfliktreichen Zeitalters haben? Jurowski macht es spannend. Nach Beethovens himmlischem Andante stören Schönbergs zwölftönige Spaltklänge die Harmonie. Der Bariton Dietrich Henschel rezitiert in englischem Text die grausigen Geschehnisse im Warschauer Ghetto – künstlerisch klug und musikhistorisch wissend in der Manier der kaiserzeitlichen Hoftheater-Rhapsoden. Nach sieben Minuten mündet der Horror in einen gesungenen hebräischen Gottesruf des gesamten Männerchors, und dies wiederum wird zum berühmten Chaos von Beethovens Finale. Das Publikum sitzt in Versteinerung, die sich im Schlussapplaus zu Begeisterung wandelt. Die Aufbrechung des versteinerten Götterfunken-Rituals ist Vladimir Jurowski gelungen.

( MaNö )