Kultur

Musiker treiben Hochleistungssport

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Martina Helmig

Das Deutsche Symphonie-Orchester feiert den Jahreswechsel mit dem Circus Roncalli im Tempodrom

Manche Musiker sind wahre Finger­akrobaten, die mit Tönen jonglieren, Seiltänze auf Geigensaiten aufführen und Riesenwerke bändigen. Das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) darf sich einmal im Jahr tatsächlich wie im Zirkus fühlen. Den Jahreswechsel feiert es seit 2003 immer gemeinsam mit dem Circus Roncalli. Die Musikartisten und die Manegenkünstler sind spürbar zusammengewachsen.

Zum Auftakt gibt es immer etwas Lustiges oder Erstaunliches. Kent Nagano ritt einst hoch zu Ross in die Manege ein. In anderen Jahren gab es einen Dirigenten als Clown, als Mitglied der Putzkolonne oder integriert in einen Zaubertrick. Diesmal tritt ein beatboxender Spaßmacher vor das Orchester, bevor er den Taktstock an John Wilson, den wahren Maestro des Abends, übergibt. Er hat ein amerikanisches Programm zusammengestellt. Es besteht vor allem aus Musical- und Filmmelodien, denn darin ist der Brite ein Kenner. Stilsicher führt er die Musiker durch Leonard Bernsteins überdrehte „Candide“-Ouvertüre und das schwergewichtige Thema aus dem Film „The Big Country“ („Weites Land“).

Die symphonischen Klänge atmen circensisches Flair, und die Artisten nehmen den Rhythmus auf. Eine luxuriösere Zirkuskapelle können sie nicht bekommen. Zu Leroy Andersons „The Girl in Satin“ schwebt Vivi Paul am Reifen durch die Lüfte. Ihre Schwester Lili, die andere Tochter des Zirkusgründers Bernhard Paul, hat sich das romantische Thema aus „Schindlers Liste“ für ihre eleganten Verrenkungen ausgesucht. Byol Kang an der Solovioline umkreist spielend das Podest der Schlangenfrau. Beide tragen ein glitzerndes Outfit. Musik und Bewegungen stecken voller Sinnlichkeit.

Die Zündschnur ist kurz. Das musikalisch-artistische Feuerwerk begeistert sofort. Bis unters Dach ist das Tempodrom voll besetzt mit vergnügtem Pu­blikum. Artisten und Musiker gestalten ihr Programm nicht nur nebeneinander. Sie spielen wirklich miteinander. Die Saltos des Trios Csaszar wirken temperamentvoller zu den spanischen Rhythmen von Leroy Andersons Serenata. Franz Waxmans „Taras Bulba“-Musik klingt viel aufregender mit den verwegenen Männern vom Circustheater Bingo, die kopfüber an Metallstangen hinabsausen.

Wenn die Seiltänzerin ihr schaukelndes Seil in äußerster Schräglage betritt, kommt die Dramatik von „Ben Hur“ gerade recht. „Harry Potter“ bringt die magische Note in die Nummer des zaubernden Clowns und seiner geheimnisvollen Kiste. Musik und Show greifen einfach gut ineinander. Catwall Trampo heißt der artistische Höhepunkt. „Tom und Jerry“ unterstützt die humoristische und wilde Stimmung der atemberaubenden Nummer mit den verrückten Luftsprüngen auf zwei Trampolinen.

Die Musicalsängerin Kim Criswell beeindruckt in Songs von Cole Porter und Irving Berlin als Showlady mit großem Stimmumfang. Bei Leonard Bernsteins „Dream With Me“ schraubt sich ihre Altstimme auf einmal mühelos in den Sopran hoch. Nicht nur die Artisten, auch die Musiker treiben Hochleistungssport. Die Stücke sind rein technisch schwer zu bewältigen. Die Partituren enthalten weit überdurchschnittlich viele Noten. Zwei solche Silvestershows an einem Tag sind nicht nur für die Trompeter sicher eine Herausforderung.

Das Zusammenspiel zwischen Musikern und Artisten wird immer sehr kurzfristig geprobt. Erst zwei Tage vor Silvester sind sie zusammengekommen. Umso erstaunlicher, wie gut alles gelingt. Die Künstler freuen sich jedes Jahr aufeinander und spornen sich gegenseitig an. Unter der steinernen Zirkuskuppel des Tempodrom kann man sich keine gelungenere Silvesterfeier vorstellen. Am Ende regnet es wie immer Ballons, Luftschlangen und Konfetti.