Der Projektchor „Sing along, Berlin“ lädt sein Publikum bei Auftritten am Wochenende zum Mitsingen ein.

„Ihr Tomaten!“, ruft eine grauhaarige Frau. Sie stürmt auf einen glatzköpfigen Mann zu. Die Gruppen hinter beiden Streitenden rennen in Zeitlupe aufeinander zu. Fäuste werden Richtung Decke gereckt, die Hand der Frau streckt sich langsam zur Ohrfeige, kriecht auf die Wange des Kontrahenten zu. Eine Rassel erklingt – die Hand stoppt, kurz bevor sie den Schlag ausführt. Der Kampf der Menschenmenge friert mitten in der Bewegung ein. „Aus diesem Freeze entsteht ein Lied. Welches wissen wir noch nicht“, sagt Mareike Jung, Bewegungsschauspielerin und Trainerin im Projekt „Sing along, Berlin!“.

Die 85 Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die eben noch kämpften, applaudieren jetzt. Sie bilden den Projektchor „Sing along, Berlin!“, der vergangene Woche im Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz in Neukölln probte. An diesem Wochenende wird der Chor aus Gesangslaien und Profis mit ihren Auftritten an den unterschiedlichsten Orten Berlins überraschen – und sein Publikum zum Mitsingen einladen.

„Vergangenes Jahr entstand die Idee, unter dem Motto ‚Ankommen und Begrüßen‘ einen Ort und eine Zeit des gemeinsamen Singens in Berlin zu schaffen“, sagt Ingrid Allwardt, Koordinatorin von der Agentur iQult, die das Projekt organisiert. Eigentlich sei der Chor nur für eine einmalige Aktion geplant gewesen, doch dann hätten sich die Teilnehmer weiterhin privat getroffen. „Musik hat Menschen nachhaltig zusammengebracht – das mussten wir fortführen“, so Allwardt.

Ein Drittel der Teilnehmer hat noch nie zuvor gesungen

„Mittendrin“ lautet das Motto 2017, entsprechend änderte sich auch der Proberaum des Chors. Statt in der Berliner Philharmonie bereitete er sich dieses Jahr bei Karstadt am Hermannplatz vor. „Es kommen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen, um damit weitere Menschen zu erreichen. Kein Ort wäre dafür besser geeignet als die Grenze von Neukölln und Kreuzberg“, sagt Franziska Giffey (SPD), Bürgermeisterin von Neukölln und Schirmherrin des Projekts.

Die Räume des Kaufhauses sind kleiner als die der Philharmonie, deshalb verringerte sich die Teilnehmerzahl von 160 auf 85. Mehr als zwei Drittel von ihnen waren bereits im vergangenen Jahr dabei. So auch Emilie (18): „Jeder gibt so viel er kann und nimmt genauso viel wieder mit.“ Die meisten Teilnehmer singen auch außerhalb von „Sing along“, ein Drittel dagegen hat noch nie zuvor gesungen. „Es ist eine Herausforderung, Profis und Laien aller Altersklassen zusammenzubringen“, sagt Trainerin Jung. Neo Muyanga, Sänger und Komponist aus Südafrika, hat sich dieser Herausforderung angenommen. Er schrieb ein Stück, das der Chor gemeinsam mit einem Solistenquintett des Berliner Rundfunkchors präsentiert. „Bei ,Sing along‘ entdecken wir kontinuierlich, wie unterschiedliche Menschen und Stimmen harmonieren können“, sagt Neo Muyanga.

Chor singt vor, Publikum singt zurück

In der Probe fliegen indes Töne und Wortfetzen von einer Seite des Raums zur anderen. „Der eine singt einen Ton, der anderen nimmt ihn an“, sagt Michael Betzner-Brandt, der wie letztes Jahr musikalischer Leiter des Chors ist. Das ist die Idee des Projekts: Der Chor singt vor, das Publikum singt zurück. So soll die Anonymität der Großstadt aufgebrochen werden. Die Sänger von „Sing along“ geben dabei die Texte vor, die das Publikum bei seiner Antwort aufgreifen kann. „Zusammen schöpfen sie Kraft aus der Gruppe, um Menschen im öffentlichen Raum anzusingen und zum Mitsingen einzuladen“, sagt Betzner-Brandt.

Wenn an diesem Wochenende „Ihr Tomaten!“ unter anderem durch den Berliner Hauptbahnhof in Mitte schallt, sollten Umstehende hinhören. Eine bunte Menschenmenge wird die Treppen hinunterlaufen und ihr Publikum auffordern: „Komm, Sing along!“

Auftritte: Sonnabend 15 Uhr und 16 Uhr am Hermannplatz in Neukölln, 18 Uhr am Oranienplatz in Kreuzberg. Sonntag 11 Uhr am Hauptbahnhof in Mitte, 14 Uhr an der Gedächtniskirche in Charlottenburg, 17 Uhr am Schloss Britz.