Daniel Barenboim trat mit dem West-Eastern Divan Orchestra auf - ein gelungener Musikabend im Murellental.
„Wie schön laut ihr pfeift!“, ruft Daniel Barenboim in die Menge, und das Publikum antwortet mit doppelt so lauten Pfiffen. Wenn der Maestro in aufgeräumter Stimmung ist, duzt er sein Publikum. Am Ende des Waldbühnen-Konzerts mit dem West-Eastern Divan Orchestra (WEDO) hat er allen Grund dazu. So ein gelungener Musikabend schweißt zusammen.
15.000 Musikfreunde sind ins Murellental gekommen. Ganz voll ist es diesmal nicht geworden. Warum? Am Orchester, das sich in den letzten Jahren gesteigert hat, kann es nicht liegen. Auch nicht am russischen Programm, das größtenteils aus Publikumsschlagern besteht. Vielleicht hat einfach der verregnete Sommer den Kartenverkauf ein wenig gedämpft.
Daniel Barenboim betritt das Podium und reißt die Arme hoch. Die Ouvertüre zu „Ruslan und Ljudmila“ bricht wie eine Naturgewalt über die Waldbühne herein. Der blitzblanke Streicherklang präsentiert sich in Bestform. Barenboims Sohn Michael sitzt wieder auf dem Konzertmeisterstuhl. Das rasende Jugendorchester spielt Glinkas effektvolles Orchesterbravourstück eher schneller als in den üblichen sechs Minuten. Dabei lässt Daniel Barenboim auch das geheimnisvolle Ambiente der Märchenoper mit ihren Zauberern, Zwergen und Hexen aufscheinen. Und natürlich das folkloristische Kolorit, schließlich ist Glinka der Erfinder der russischen Nationaloper.
Drohende Wolke löst sich in Wohlgefallen auf
Der Regen der letzten Tage hält den Atem an. Die düstere Wolke, die am Anfang noch drohend über dem Zeltdach hängt, löst sich in Wohlgefallen auf. Die Tontechnik war schon besser aufgelegt. In Block C klingt Glinkas Musik jedenfalls etwas blechern. Im Geiste Puschkins geht es um den Sieg der Menschenliebe über die Mächte des Dunklen und Bösen. Das passt zum Anspruch von Barenboims einzigartigem Orchester, in dem Israelis, Palästinenser, Syrer, Libanesen, Ägypter, Iraner und Türken zusammen spielen.
Der Künstlerische Leiter der Staatsoper zählt zu den weltweit gefragten Stardirigenten. Trotzdem erklärt er immer wieder, dass er sein WEDO für das wichtigste Projekt seines Lebens hält. Jedes Jahr gelingt es dem Dirigenten, Menschen aus verfeindeten Ländern des Nahen Ostens durch die Musik einander näher zu bringen. In ihren Arbeitsphasen proben, leben und diskutieren sie miteinander. Sie führen vor, dass es möglich ist, dass sich Israelis und Palästinenser für eine gemeinsame Sache engagieren. Zum Beispiel für eine erstklassige Interpretation von Dmitri Schostakowitschs erstem Klavierkonzert.
Kommt sie oder kommt sie nicht? Die überlange Pause zwischen den Stücken lässt die Spannung steigen und an die vielen Konzerte denken, die die große Tastenvirtuosin Martha Argerich wegen ihres schlimmen Lampenfiebers in letzter Minute abgesagt hat. Mit Daniel Barenboim tritt sie aber gern auf. Bei ihrem Kinderfreund, mit dem sie schon als Achtjährige in Argentinien auf und unter dem Klavier gespielt hat, fühlt sie sich geborgen.
Ein wilder Parforceritt durch die Musikgeschichte
Schostakowitsch hat sie sich aufs Programm gewünscht, die Königin der Löwen liebt die Russen. Gegenüber den Konzerten für Geige und Cello gelten die beiden Klavierkonzerte als weniger tiefgründig. La Martha spielt vehement gegen das Vorurteil an. Gerade bei dem frühen Werk des 26-jährigen Komponisten handelt es sich um eines der originellsten Klavierkonzerte des 20. Jahrhunderts. Es lebt vom Maskenspiel, vom hintergründigen Humor, und darin ist die Pianistin eine Meisterin. Das Stück ist ein wilder Parforceritt durch die Musikgeschichte, der zwischen klassischer Musik, Jazz und Zirkus ständig die Stilsphären wechselt. Die Pianistin verbeugt sich kurz vor Beethoven, lässt ein Thema von Haydn anklingen und Liszts Virtuosität aufblitzen.
Schostakowitsch nannte das Werk eine "spöttische Herausforderung an den konservativ-seriösen Charakter des klassischen Konzert-Gestus". Die Pianistin nimmt die Aussage ernst und setzt die ganze Vielfalt ihrer Farbpalette auf dem Flügel ein. In einem Moment klingt ihr Anschlag kristallklar, im nächsten schwingt Martha Argerich den breiten Pinsel. Melodien und Rhythmen fallen übereinander her, immer geht es anders weiter, als man denkt. Wenn man im langsamen Satz glaubt, ernst gemeinte Emotionen zu hören, verfällt Argerich gleich wieder in den Tonfall der verschmitzten Parodie. Als zweiter Solist mischt sich der Solo-Trompeter des Orchesters, Bassam Mussad aus dem Sudan, immer wieder kraftvoll ein.
Martha Argerich ist ein Freigeist. Schon wenn sie Schumann spielt, ist es für die Orchester nicht einfach, ihr zu folgen. Für diesen Schostakowitsch gilt das erst recht. Das WEDO, das sie zum Ehrenmitglied ernannt hat, begleitet sie wie schon beim Waldbühnenkonzert im letzten Jahr mit großer Hingabe. Nur selten driften die Interpretationsansätze auseinander, etwa kurz vor Ende des langsamen Satzes, wenn das Orchester im romantischen Klang schwelgt, während die Solistin einen sachlichen. nüchternen Tonfall vorgibt. Das Publikum jubelt, weil Barenboim und seine Jugendfreundin als Zugabe gemeinsam in die Tasten greifen. Seit 1996 treten sie regelmäßig als Klavier-Duo auf. Ravels „Ma mère l’oye“ führt in die Kindheit zurück, das wirkt schon rührend.
Existentielle Konflikte zwischen den Themen
Bei Tschaikowsky geht es um das große Hadern mit dem Schicksal. Daniel Barenboim setzt schon in der Einleitung harsche Akzente, die die heftigen Auseinandersetzungen der fünften Sinfonie ahnen lassen. Die nicht hundertprozentig souveräne Hornmelodie des langsamen Satzes gehört zu den wenigen Momenten des Konzerts, in denen man merkt, dass es sich bei den Musikern (noch) nicht um Vollprofis handelt. Bei Tschaikowsky versteht man besonders gut, was Barenboim meint, wenn er sagt, die Konfliktparteien des Nahen Ostens könnten von der Musik lernen. Auch in der Sinfonie gibt es existentielle Konflikte zwischen den Themen, aber sie werden friedlich ausgetragen. Jedes musikalische Motiv bekommt seinen Raum. Die Musik bringt den Zuhörer dazu, unterschiedlichen Meinungen zuzuhören. Barenboim steigert das aufbrausende Finale ins Triumphale. Lauter ist dann nach den beiden Zugaben nur noch der Applaus.