Porträt

Ihr Buch über die Tanzkneipe

| Lesedauer: 5 Minuten
Caroline Rosales
Anna Müller

Anna Müller

Foto: Reto Klar

Mit Texten aus dem Szenetreff „King Size“ startet Anna Müller, Tochter von Heiner Müller, ihren Verlag.

Anna Müller öffnet die Tür zu ihrer Kreuzberger Altbauwohnung. Ein lichtdurchflutetes Loft mit großen Fenstern, Korkboden, hohen Bücherregalen, in dem sie seit ihrem ersten Geburtstag mit ihrer Mutter lebt. „Schön, dass du da bist. Willst du etwas trinken?“, fragt sie. Sie trägt T-Shirt und ihre blonden Haare im Dutt.

Anna Müller ist die einzige Tochter des Dramatikers Heiner Müller. Bertolt Brecht war der wirksamste deutsche Theatermacher der ersten Jahrhunderthälfte, in der zweiten war es Müller. Als er am 30. Dezember 1995 starb, war Anna drei Jahre alt. Sie sieht ihrem Vater ähnlich. Sie verhält sich auch so, wie ihn einstige Weggefährten beschrieben haben: besonnen, cool, selbstbewusst.

„Eigentlich hatte er immer gute Laune“

Seit einem Jahr ist Anna Müller Verlegerin. Mit Johannes Finke, der in den 90er-Jahren den Lautsprecher-Verlag gründete und Wahlkampfpartys für Christoph Schlingensief inszenierte, hatte sie vor einem Jahr die Idee zum „Herzstückverlag“ – benannt nach einem Kurzdrama ihres Vaters. Ihr Liebstes. Das erste Buch „Nutzloses Gesindel“ erscheint am 10. Juli. Es ist ein Sammelband aus Kurzgeschichten, Gedichten, Prosastücken, fiktiven Interviews, Anekdoten von mehreren Autoren über die Bar „King Size“ an der Friedrichstraße in Mitte. Eine Tanzkneipe, um die sich zahlreiche Storys ranken, die jede Übertreibung überflüssig machen.

„Ein Zuhause für Edelkaputte, die eigentlich noch kaputter sind als Kaputte“, schreibt Autor und Comedian Oliver Polak über das „King Size“. Das ist der poetische Teil. Der reale handelt von einem 60 Quadratmeter großen Ladenlokal, das ab Mitternacht auch wochentags knallvoll ist. In dem man schwitzt, trinkt, flirtet, bis das Kondenswasser nicht erst in den frühen Morgenstunden von der Decke tropft, es draußen dämmert, und der Türsteher Frank Küster ruft: „Raus mit Euch, ihr nutzloses Gesindel.“

Für Anna Müller ist das „King Size“, wie für viele, kein beliebiger Tresen, sondern eine Art Zuhause, wild „wie eine WG-Party“, behaglich wie ein Wohnzimmer. Hier, wo sie den Ruf eines feierfreudigen Fräuleins genießt, entstand auch die Idee, einen eigenen Verlag zu gründen.

Die Herzlichkeit, die Fähigkeit zum Small Talk hat Anna Müller von ihrem Vater geerbt, sagt ihre Mutter, Fotografin Brigitte Maria Mayer, die mit Heiner Müller verheiratet war. Galt er als nicht eigenbrötlerischer Denker, als Pessimist? „Nein, eigentlich hatte er immer gute Laune“, sagt sie.

Erinnerungen an ihren Vater schöpft Anna Müller aus Erzählungen. Er hat sie sehr geliebt, weiß man von Zeitgenossen. Er wünschte ihr drei Dinge: „Ein bisschen asozial, ein bisschen höflich zu sein und die Fähigkeit zur Distanz.“ Anna Müller hört diesen Satz gern. Sie lacht. „Das mit dem ‚höflich‘ und ‚asozial‘ läuft, nur bei der ‚Distanz‘ übe ich noch“, sagt sie.

Wie wichtig und berühmt ihr Vater war, erkannte sie erst als Teenager, als sie den Namen ihres Vaters in einer Enzyklopädie ihrer Schulbibliothek fand. Sie besuchte bis zum Abitur das Internat Schule Schloss Salem am Bodensee. „Ich wollte mal schauen, ob er überhaupt drin ist. Und da war er. Mit langer Beschreibung und Foto.“ Ihr erster Gedanke damals: „Huch!“

Seit ihrer Kindheit weiß sie, dass ihr alle Möglichkeiten offenstehen. Nicht als Tochter, sondern als Anna. „Mir wurde sehr viel vorgelesen, die griechischen Sagen von Franz Fühmann etwa.“ An die Texte ihres Vaters tastet sie sich langsam heran. Sie las erst seine Gedichte, dann die Biografie, jetzt die Texte-Sammlung.

Heiner Müllers Schaffen ist ein Erbe, das sie weiterführen will

Sein Schaffen ist ein Erbe, das sie weiterführen will. Auch mit ihrem Verlag. Die Manuskripte, die Autoren ihr schicken, müssen ihr „gefallen“, sagt sie unbekümmert. Was heißt das? Sie überlegt: „Mir gefällt, was berührt, wo man reingehen und darin leben kann.“

Es müssen Geschichten sein, in deren Kulissen man sich traumwandlerisch bewegen kann. In denen, die Protagonisten für die Dauer des Lesens Familie werden.

Anna Müller ist umgeben von Geschichten, Theater und Büchern. Wenn sie die namhaften Persönlichkeiten der Branche treffen will, muss sie wortwörtlich nur durch ihre Schlafzimmertür treten. Bei einer Soiree in ihrer Wohnung, zu der ihre Mutter eingeladen hatte, las neulich Schauspielerin Corinna Harfouch aus dem neuen Sammelband von Heiner Müller. Es gab Rotwein, Sprudel, Brezeln. Die Gäste rauchten nach der Lesung am Fenster.

Anna Müller möchte in ihrem Leben alles einmal gemacht haben. Ihr Studium der Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) will sie „langsam fertig machen“. Priorität hat erst einmal der Buchverlag, als nächstes vielleicht ein Laden. Ein Buchlokal? „Ja, so etwas in der Art.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Vielleicht mache ich aber auch einfach ein Taco-Restaurant rein“, sagt sie und lacht. „Hey, es gibt keine guten Taco-Restaurants in Berlin.“