Theater in Berlin

Volksbühnen-Stück mit Friedrich-Luft-Preis ausgezeichnet

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Katrin Pauly
Christoph Marthaler inszenierte „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ an der Volksbühne

Christoph Marthaler inszenierte „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ an der Volksbühne

Foto: Walter Mayer / BM

Den Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost erhält "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter", inszeniert von Christoph Marthaler.

Ein Mann trägt einen Stuhl. Der Stuhl ist nicht besonders groß, der Mann schon. Mit langsamen Schritten schaut er nach einem Ort zum Niederlassen. Platz gäbe es genug in dem hohen, leeren Saal, in den von oben fahles Licht fällt. Hier war mal mehr los, hier gab es was zu sehen. An den Wänden zeugen exakt viereckige Ränder von abgehängten Bildern. Dort, wo einst Vitrinen standen, ist das Parkett heller. Der Mann mit dem Stuhl ist der Schauspieler Ulrich Voß. Er ist 78 Jahre alt. Er war oft hier an der Volksbühne zu sehen. Jetzt ist der Raum so voll mit Leere, dass er keinen Platz mehr findet für sich. Er geht wieder, den Stuhl nimmt er mit.

In seiner Inszenierung „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ spürt der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler den Dingen nach, die nicht mehr sind oder bald nicht mehr so sein werden wie sie mal waren. Sein Thema ist die alles einkassierende Zeit. Er geht behutsam mit ihr um, manchmal nimmt er sie auf den Arm, mit Musik versucht er ihr ihre Geheimnisse zu entlocken. Manches gibt sie tatsächlich preis. Dafür erhält die Inszenierung den Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost als „beste Berliner und Potsdamer Aufführung des Jahres 2016“. Für Marthaler ist es der zweite Friedrich-Luft-Preis. Den ersten erhielt er 1998 für seine Inszenierung von Jacques Offenbachs Operette „Pariser Leben“ an der Volksbühne.

Die Berliner Morgenpost verleiht den mit 7500 Euro dotierten Preis seit 1992 im Andenken an ihren 1990 gestorbenen Theaterkritiker Friedrich Luft. Die siebenköpfige Jury überzeugte der Abend, „weil seine Inszenierung ein melancholisch-musikalisches Mosaik über die Vergänglichkeit der Dinge ist. Er setzt humorvoll den Darstellern, dem Theater und auch der Volksbühne ein Denkmal. Es ist ein großes Theaterfest, das mit einem leisen Lebewohl endet“.

Christoph Marthaler eröffnete damit die letzte Spielzeit

Mit der Inszenierung eröffnete Christoph Marthaler im September die letzte Spielzeit an der Volksbühne unter der Intendanz von Frank Castorf, der im Sommer vom umstrittenen belgischen Museumsmann Chris Dercon abgelöst wird. In den Monaten vorher gab es viel Gezänk, ob Dercon der richtige Mann sei für diesen Job. Kritiker befürchten, er wolle die Volksbühne zur „Eventbude“ machen und die Bedeutung des festen Ensembles reduzieren. Natürlich klingt das alles nach, wenn Anna Viebrock einen patinierten Museumssaal auf die Bühne stellt, wenn die Darsteller luftpolsterfolienverpackt in großen Holzkisten auf die Bühne geschoben werden und wenn Irm Hermann, die mit Haltung und Handtäschchen in einer dieser Kisten sitzt, feststellt: „Ich hasse diese Wanderausstellungen.“

Einer nach dem anderen werden sie auf einem Wägelchen hereingefahren. Olivia Grigolli passt erstaunlicherweise in einen handelsüblichen Umzugskarton. Jürg Kienberger und sein Cembalo sind von Filzdecken verhüllt. Es wird wenig gesprochen, aber viel musiziert. Der ausgebildete Oboist Marthaler kam über die Musik zum Theater, sie ist auch hier das Ventil. Einmal sitzen sie alle auf ihren Stühlen, den Blick auf die Schatten an den Wänden gerichtet und singen ganz zart und herzergreifend die Eichendorff-Zeilen „Mein Liebchen ist verschwunden/das dort gewohnet hat“. Sie geben Bach, Beethoven und natürlich Schubert, den Sehnsuchts-Tonsetzer. Später kommt Sophie Rois dazu und singt mit rauer Grandezza ein neapolitanisches Lied. Außerdem: Jemand repariert eine Geige, im Klavierkasten hat sich ein Würstchen mit Senf versteckt und ein Glückskeks rät: „Du sollst dich im Zweifel für das Richtige entscheiden.“ Die Menschen hier nehmen solche Dinge ungerührt zur Kenntnis. So kauzig und sonderlich sie auch alle sind, Mar­thaler betrachtet seine übrig Gebliebenen mit warmem Humor.

Ein besonderes Menschenbild

Dieses besondere Menschenbild wurde auch in der Jurydiskussion hervorgehoben. Neun Inszenierungen waren nominiert. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ gehörte früh zu den Favoriten ebenso wie Stefan Puchers Inszenierung „Marat/Sade“ am Deutschen Theater. Das war in diesem Jahr keine schnelle Entscheidung, erst nach sehr engagierter Diskussion setzte sich der Sieger durch. Nominiert waren außerdem die Schaubühnen-Inszenierungen „Professor Bernhardi“ von Thomas Ostermeier und „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ von Milo Rau. Dem Deutschen Theater bescheinigte die Jury ein sehr gutes Jahr und nominierte es dreimal: Neben „Marat/Sade“ standen „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Karin Henkel und „Der Mensch erscheint im Holozän“ in der Regie von Thom Luz auf der Liste. Am Renaissance-Theater fiel die Inszenierung „Der Vater“ von Guntbert Warns auf und schaffte es unter die Vorgeschlagenen ebenso wie „Die wohlpräparierte Frau“ in der Regie von Stephan Thiel im Theater unterm Dach. Auch aus Potsdam war eine Nominierung dabei: Alexander Nerlichs Version von Ibsens „Peer Gynt“ am Hans Otto Theater.

Am Ende konnte sich „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ auch deshalb durchsetzen, weil der Abend anspielungsreich über sich hinausweist. Auch auf ein Kapitel Berliner Theatergeschichte. Im Jahr 1993 inszenierte der damals noch wenig bekannte Marthaler erstmals am Rosa-Luxemburg-Platz und bescherte der frisch von Frank Castorf übernommenen Volksbühne mit seinem „Murx den Europäer!“-Abend einen spektakulären Erfolg. Auf der Besetzungsliste von „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ findet sich unter den 13 Darstellern mancher, der schon damals dabei war. Ganz kurz klingt jener „Danke“-Song an, der den Abend prägte und Ueli Jäggi trägt wieder den rostbraun-beige gestreiften Strickpulli. Die Klamotten passen noch. „Damit die Zeit nicht stehen bleibt“, dieser Satz hing damals bei „Murx“ an der Wand und aus ihm plumpsten Buchstaben zu Boden. Sie ist nicht stehen geblieben. Wie sie das nicht getan hat, das zeigt Christoph Marthaler und macht daraus einen ganz großen Abend.