Ein traumschöner Abend mit Ulrich Matthes im Zentrum: „Der Mensch erscheint im Holozän“ im Deutschen Theater
Herr Geiser hat Zeit. Die hat er nicht gewollt, lieber würde er draußen im Garten arbeiten. Aber es schüttet seit Tagen, und das Tessiner Bergdorf, in dem Herr Geiser lebt, ist durch ein Unwetter von der Außenwelt abgeschnitten. Herr Geiser ist Rentner, fast 74, verwitwet. Er war Fabrikbesitzer in Basel. Das war früher, aber jetzt ist nichts zu tun. Deshalb sitzt er auf einem kleinen Hocker und lauscht der Welt, sammelt Fakten gegen die Einsamkeit und den Gedächtnisverlust. Fast den halben Abend sitzt Ulrich Matthes so da. Vorne an der Bühne, aber mit dem Rücken zum Publikum. Im Halbdunkel erkennt man nur seine Silhouette. Von rechts betritt der Pianist Daniele Pintaudi das Parkett, setzt sich ans Klavier, spielt Beethoven, oben auf der Bühne stehen noch mehr Klaviere, ein halbes Dutzend insgesamt. Ein zweiter Klavierspieler stimmt ein. Herr Geiser bleibt sitzen.
Denn auch Regisseur Thom Luz hat Zeit, er nimmt sie sich. Es ist ein versponnener, musikalischer und traumschöner Abend, mit dem das Deutsche Theater seine neue Spielzeit eröffnet, die unter dem Motto „Keine Angst vor niemand“ steht. Mutig, weil er fast ohne Handlung auskommt. Und weil er nicht von einem der hausbekannten Großregisseure bestellt wird, sondern vom erst 34-jährigen Schweizer Thom Luz. Er hat sich die schmale Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch ausgesucht. Ein Altersstück, das 1979 erschien, da war Frisch schon knapp 70. Fast so alt wie Herr Geiser.
Er ist aus der Welt gefallen, er spürt seinen Verfall
Während Herr Geiser auf seinem Stuhl sitzt, blicken wir an ihm vorbei ins neblig-weiße Bühnenrund. Auf einer provisorischen Plattform steht ein fragiles Zimmer, das nur zwei Wände hat. Touristen kommen vorbei, die Fremdenführerin erklärt das Dorf. Der Postbus fahre dreimal täglich. Ein Stausee sei nicht vorgesehen. Zweimal versucht Herr Geiser sich einzumischen, die Stimme zu erheben, sofort schiebt sich Dunkel zwischen ihn und die anderen. Er ist aus der Welt gefallen und versucht umso mehr, sich an ihren Rändern festzuklammern. Herr Geiser spürt seinen Verfall, aber aus Gründen der Selbstvergewisserung setzt er dem Ausfall der Hirnzellen eine Ansammlung von Fakten entgegen. Mit Lexikonartikeln, biologischen Bestimmungen, heimatkundlichen Erörterungen pflastert er seine Wände. „Wissen beruhigt“ sagt er und weiß doch: „Alles geht kaputt. Der Mensch bleibt ein Laie.“
All diese Schnipsel und Notizen, seine kleinen Endzeitbonmots verteilt Thom Luz klug auf verschiedene Spieler und Sprecher. Ulrich Matthes bleibt das Zentrum, ruhig, zurückgenommen, schon leicht gebrochen, aber noch staunend. Die anderen spielen keine eigentlichen Rollen, nur angedeutet wird, dass Judith Hofmann Geisers Frau Elsbeth sein könnte, Franziska Machens seine Tochter Corinne, Leonhard Dering der Schwiegersohn und Wolfgang Menardi und Daniele Pintaudi irgendwelche Wissenschaftler. Luz bebildert den Text von Max Frisch nicht, er leuchtet ihn aus. Mit einem starken Lichtstrahl zum Beispiel, der, von den verspiegelten Notenpulten der Klaviere mehrfach umgelenkt, in scharfem Zickzack den Raum zerteilt (Lichtkonzept: Matthias Vogel). Ein Scheinwerfer macht sich selbstständig, eine nackte Glühbirne verglimmt im Bühnenhimmel, einige singen ein Tessiner Volkslied. Manchmal sieht das bedeutungsschwer aus, meistens aber sehr poetisch, und wie der Herr Geiser in anderthalb Stunden vor unseren Augen fast verschwindet, ist anrührend. Am Ende nützt ihm all sein Wissen nichts. Ein weißer Gazevorhang nach dem anderen schiebt sich von oben zwischen ihn und uns.
„Der Mensch erscheint im Holozän“ im Deutschen Theater, Schumannstr. 13a, 28.9., 7. 10, Tel.: 28 441 225