New Order hat sich für den Aufritt in Treptow etwas Besonderes einfallen lassen. Als die Band ihr erstes Lied spielt, zeigt die Leinwand Impressionen aus der Stadt. Es ist Filmmaterial aus „B-Movie. Lust & Sound in West-Berlin“, den der Brite Mark Reeder drehte und im vergangenen Jahr in die Kinos brachte. Es zeigt das harte Berlin der 80er-Jahre, vornehmlich in Kreuzberg aufgenommen, Straßenschlachten, ungezügelte Nächte, die Wut.
Vielleicht haben sich Sänger Bernard Sumner und seine Band den Film ausgesucht, weil er eine Liebeserklärung an die Stadt ist, so wie sie einmal war, und deren einstige Kaputtheit einen Teil des heutigen Mythos begründet. Vielleicht aber wollten die Herren von New Order, die die Stadt gut kennen, auch anschaulich zeigen, was für einen weiten Weg Berlin in den vergangenen 30 Jahren gegangen ist.
Bei einem Festival in der Lollapalooza-Größe hätte einst das Thema Sicherheit dominiert, und wie Aggressionen auf einem Festival mit 70.000 Menschen zu vermeiden sind. Heute fragt man sich, wie es wohl den Pflanzen in diesen Tagen ergehen wird. Und Frauen mit geflochtenen Blumenkränzen im Haar wiegen ihre Körper zu „Love will tear us apart“. An Tag Zwei des Festivals, so scheint es, ist die Stimmung entspannter. Am Bahnhof Plänterwald hatten am Sonnabend die Ansässigen, bestens positioniert im S-Bahn-Stübchen, die Gäste mit skeptischen Blicken begrüßt, als wolle der Konzertbesucher sich als der neue Untermieter vorstellen. Augenscheinlich wurde die Haltung geändert, denn am Sonntag begrüßt einen ein Bierstand im Bahnhof. Die Sonne scheint genauso unerbittlich wie am Tag zuvor, die Müllberge vom Sonnabend sind wie von Zauberhand verschwunden.
Live-Eindrücke - Tag 2 beim Lollapalooza im Treptower Park
Für jeden, der mit einem Essen für acht Personen schon überfordert ist, erscheint die Organisation eines so gewaltigen Festivals als Alptraum. Mit 70.000 Besuchern pro Tag hatten die Organisatoren eine realistische Größe geschätzt, viel mehr Menschen passen auch nicht auf das Gelände. Es ist an beiden Tagen ab 15 Uhr voll, aber wem es zu eng wird, dem bietet das weiträumige Areal Rückzugsräume. An den Essensständen sind die Schlangen gegen Abend beträchtlich, nur der Zuckerwatteverkäufer schaut recht einsam.
Es gibt Bewährtes wie Currywurst und vegetarische Speisen, Exotisches wie indianisches Fladenbrot aus Tapioka und Befremdliches wie Lachs-Kebab. An Bierständen gibt es keinen Mangel, offensichtlich alkoholisierte Menschen hat man aber kaum gesehen. Es gibt Sicherheitskräfte, sie halten sich im Hintergrund. „Wir haben nichts Besonderes zu vermelden“, sagte am Sonntagnachmittag ein Polizeisprecher. Die Stimmung ist ausgelassen, friedlich, fröhlich. Die Auftritte beginnen pünktlich. Ein fast unheimlich perfekt organisiertes Festival.
>>> Kommentar: Lollapalooza im Treptower Park war richtige Entscheidung
Musikalisch ist das Programm hochkarätiger als 2015, was aber nicht viel sagt, war doch Muse auf dem Tempelhofer Feld Hauptakt. Radiohead sind zum ersten Mal seit 2012 in der Stadt und haben ihr neues Album mitgebracht. Kings of Leon spielt massentauglich, Paul Kalkbrenner arbeitet engagiert an seinen Computern, New Orders Auftritt bleibt einem als beeindruckendster in Erinnerung. Will man etwas kritisieren, dann, dass das Programm ein wenig gefällig ist, etwas Wegweisendes und bisher Ungehörtes hört man nicht. Mit James Blake und Tocotronic wird die Kategorie „anspruchsvolle Musik“ bedient, mit Rosin Murphy und Kaiser Chiefs die der „fast vergessenen Klassiker“. Bei den weniger bekannten Bands haben die Festivalmacher im Zweifel sich immer für die Stampf-Stampf-Bands entschieden.
Am späten Nachmittag dann ziehen die Veranstalter Bilanz. Es sei ein sehr beruhigendes Gefühl, dass alles so laufe wie geplant, sagt Festival-Leiterin Fruzsina Szép. Zwölf Monate Vorbereitung lägen hinter ihr, eine „komplexe und komplizierte“ Veranstaltung. Mit 16 Behörden habe sie zusammengearbeitet, die Auflagen seien streng gewesen, doch nun sei sie erleichtert: „Wir haben geschafft, was wir uns erträumt haben.“ Auch Ingrid Lehmann vom Grünflächenamt Treptow-Köpenick macht einen zufriedenen Eindruck. Der Park sei nicht der beste Ort, aber das Wetter habe mitgespielt und alle Auflagen seien eingehalten worden. Der Treptower Park wird für Lollapalooza einmalig bleiben. 2017 werde man wieder nach Berlin kommen, so der Veranstalter, es wird wieder am zweiten Septemberwochenende sein. Den Ort könne man noch nicht nennen, die Verträge seien noch nicht unterzeichnet, aber kommende Woche werde man ihn wohl verkünden.
Konzertkritiken
The Temper Trap: hymnisch und souverän
Lange Haare, grünes Hemd, weiße Röhrenjeans, wallende Mähne. Dougy Mandagis von The Temper Trap hat eine manchmal grenzwertig nasale Stimme. Treibend ist die Komposition, die sich in Wellen entfaltet und den Hörer vor sich herschiebt. Bis ganz überraschend nur noch Gitarren spielen, die Melodie schwebt und Mandagis brüchiger Falsett brilliert. Nach einem starken hymnischen Einstieg verläuft sich der Auftritt im 80er-Sound. The Temper Trap sind souverän, ihre US-Heimat können sie nicht verleugnen. Die Band tourte durch Australien, zog nach England und brachte 2006 die erste eigene EP heraus. Mit dem Produzenten Jim Abbiss nahmen sie ihr erstes Album „Conditions“ auf. Seitdem haben sie sich in der alternativen Rockszene etabliert.
Hitverdächtiger Song von Milky Chance
Kurze Hosen, Sonnenbrillen und Blumenschmuck wohin man schaut. Groovige Gitarrenklänge, Mundharmonika und Trommeln: Mit Milky Chance könnte man meinen, man sei auf Hawaii. Mit sägender Stimme und Endlos-Atem singt Clemens Rehbein „Pass around“. Nach wenigen Takten singt das Publikum die Zeilen mit. Einfach gestrickt, könnte aber die Garantie für einen Hit sein. Milky Chance überzeugen mit grandios gespielten Songs, die Menge tanzt, während sich Rehbein mit der Gitarre immer mehr dem Boden nähert und Antonio Greger zu den verzaubernden Klängen der Mundharmonika über die Bühne tanzt. Gerade das Abitur absolviert, luden die zwei Jungs 2012 den ersten eigenen Song „Sweet Sun“ hoch. Nach dem Auftritt bei Lollapalooza ist man gespannt auf das nächste Album.
James Blakes Stimme schwebt über den Park
Man kann James Blake ein eigenes Genre zugestehen, den Post-Dubstep. Wie ein Windhauch wehen seine elektronischen Sounds durch die Luft. Der New Yorker sitzt da, völlig still, an seinem Synthesizer, die Stimme erklimmt ungeahnte Höhen. Engelsgleich und vor Emotionen triefend. Das Schlagzeug treibt nach vorn, das Keyboard erdet. Die Masse an faszinierendem Songmaterial ist fast erdrückend. Zu komplex, zu raffiniert sind die Songs, um sie sofort zu verstehen. James Blake klingt immer nach allem und nach nichts. Mit ihm öffnen sich neue Galaxien der Musikwelt. Im Juli 2009 erschien seine erste EP „Air & Lack Thereof“. Es folgten drei Alben. Sein Sound schwebt auch in Berlin. Wie eine sanfte Brise schwebt auch Blakes Stimme über den Treptower Park.
Radiohead sind der krönende Abschluss des Festivals
Ungewöhnlich steigen die Headliner des Lollapalooza-Festivals in den Abend ein: Die ersten drei Songs von Radiohead tröpfeln mehr vor sich hin, als dass sie die Stimmung vorantreiben. Der Gesang ist angenehm, doch wenig prägnant. Das rot-gelbe Licht erweckt Lagerfeuerstimmung. Bis die Bühne auf einmal kalt wirkt, sich türkis verfärbt. Plötzlich steht ein rockiges Radiohead auf der Bühne, mit "Two Plus Two Makes Five" kommen die Musiker in Fahrt. Und das Publikum geht mit. Unterhielten sich eben noch einige, hat die Band nun die volle Aufmerksamkeit. So ungewöhnlich, wie Radiohead eingestiegen sind, setzen sie den Abend auch fort. Während einige Songs das Gefühl wecken, im Wohnzimmer der Eltern bei Café und Kuchen zu sitzen, nähern sich andere dem Psychodelic-Sound an. Obwohl die Band bereits seit 31 Jahren besteht, ist ihre Musik nach dem ersten Hören schwer zu verstehen. (joe)