Berliner Museen

Die Herrscherin der Gipsformerei ist Nofretete

| Lesedauer: 6 Minuten
Gabriela Walde
Ganz in weiß: Hier warten zwei Repliken der Nofretete auf ihre weitere Bearbeitung  in der Gipsformerei

Ganz in weiß: Hier warten zwei Repliken der Nofretete auf ihre weitere Bearbeitung in der Gipsformerei

Foto: Sergej Glanze

Die Gipsformerei will sich mit einem Showroom neu aufstellen: Das alte Handwerk erlebt derzeit eine Renaissance.

Der Große Kurfürst hoch zu Ross ist dieser Tage ein gebrochener Mann. In Herrscherpose steht er vor dem Schloss Charlottenburg, doch in diesem Fall liegt seine riesige Hand in einem Eimer, ein Teil seines dramatisch geschwungenen Rockes auf einem Rollwagen, sein Rumpf auf dem Tisch daneben. Zwei der weißen Pferdebeine stehen in der Lagerhalle über dem Hof. So sieht es aus, wenn Kunstformer und Stuckateure der Gipsformerei in Charlottenburg an einer gewaltigen Replik arbeiten.

„30 bis 40 Jahre wollte keiner mehr einen Kurfürsten“, erzählt Miguel Helfrich, der die Einrichtung seit fünf Jahren leitet. Die älteste im Verbund der Staatlichen Museen. Ausgerechnet das Museum in Pueblo/Mexiko hat nun den 4,20 Meter großen Herrscher bestellt. Die Barockplastik passt ins Programm des Hauses. Und da so ein Reiterstandbild aus Europa nicht einfach mal auszuleihen ist, bestellt man es in Berlin. Fünf Mitarbeiter – von 30 – kümmern sich in dem historischen Industriegebäude derzeit um den Kurfürsten. Ein Jahr Arbeit, so Helfrichs Kalkulation. 300.000 Euro wird der gute Mann aus Gips am Ende kosten.

Ein Durcheinander der Epochen und Kulturkreise

Bevor man in die dreigeschossige Werkstatt mit den vielen Metallregalen und den Kunstrepliken gelangt, tritt man in den Verkaufsraum an der Sophie-Charlotten-Straße. Er ist Ausstellungsraum zugleich. Ein wenig wirkt der Raum – auf sympathische Art – wie die Rumpelkammer der Geschichte mit antikem Ambiente. Hier purzeln viele Epochen unterschiedlicher Kulturkreise durcheinander. Großskulpturen, Miniaturen, ganze Gruppen. Ein kleiner Goethe ist für 990 Euro zu haben. Die rechte Hand des Dichters, eher eine Pranke, gibt’s in Weiß als Schnäppchen – für 129 Euro. Dort die Laokoon-Gruppe en miniature, in der Ecke ein sitzendes Nilpferd. Helfrich ist gerade dabei, ein Konzept für einen neuen Showroom zu entwickeln. „Viele Besucher kommen und denken, wir sind ein Museum.“ Doch nur zwei Führungen gibt es pro Monat. Die Gipsformerei erlebt gerade eine Renaissance, der Wert des Kunsthandwerkes wird zunehmend wieder geschätzt. Das war nicht immer so. „Das sind nur Kopien“, hieß es. Museen schlossen ihre Gipswerkstätten, die Formen flogen auf den Müll. Heute, erzählt Helfrich, kämen Vertreter internationaler Museen, um sich die Gipsformerei mit ihren traditionellen Techniken anzuschauen. Zwar gibt es vergleichbare Institutionen in Paris und Brüssel, dort allerdings wird nicht in der Größe produziert wie in Berlin.

Was die Besucher betrifft, hat Helf­rich „zwei Seelen“ in seiner Brust. Schließlich wird in der Gipsformerei tagtäglich produziert, das ist nicht immer kompatibel mit einer Führung. Überall fliegt Gipsstaub herum, die Luft ist trocken. Auf den Fensterbänken stehen Eimerchen, Gläser mit Pinseln, auf dem Tisch liegen Dentalinstrumente, wie sie der Zahnarzt gern benutzt – für feinste Modellierungen. Vorne in der improvisierten Küche werden gerade Würstel gebraten.

Mehr Geschichte, weniger Objekte, alles luftig. Spätestens 2019 zum 200. Jubiläum soll alles tipptopp im neu aufgestellten Eingangsbereich sein. Dann kann der Besucher hier hoffentlich mehr darüber erfahren, dass es der Bildhauer Christian Daniel Rauch war, der in den ersten Jahren eine eigene Sammlung von Gipsabdrücken für die Berliner Museen aufgebaut hat. Dass der US-Künstler Jeff Koons hier vor zwei Jahren einen tonnenschweren Apoll und Herkules fertigen ließ.

Dass es 7000 Formen von internationalen Kunstwerken im Bestand gibt. Die Gipsformerei also eine Art imaginäres Museum ist – mit der „DNA“ der Originale. Eigentlich gibt es nichts, was man hier nicht finden kann: ein Neandertalerschädel grinst aus dem Regal, ein Buddha hockt in einer Ecke, sogar rituelle Blutschalen (für zuckende Herzen) gehören zum Formenbestand. In vielen Fällen haben die Abgüsse ihre zerstörten oder verschollenen Originale überlebt. Wer weiß schon, dass es die Quadriga ohne die Gipsformerei so gar nicht gäbe. Im Krieg wurde 1942 ein Gipsabguss von ihr gemacht. Mithilfe des Modells fertigte die Gießerei Noack nach dem Krieg eine Replik. Helfrich könnte Hunderte dieser Geschichten erzählen. Die Laokoon-Gruppe gibt es etwa mit Feigenblatt – und ohne. Helfrich nimmt das gute Stück ab, „wir bieten beide Varianten“, je nach Geschmack.

Herrscherin des Hauses ist Nofretete. Kein Raum, keine Wand, wo ihr schlanker Hals uns nicht begegnet – als Guss, als Foto, als Zeichnung. Irgendwo auf einer Werkbank steht sie auf dem Kopf – mit einer Plastiktüte darüber. Bizarr. Wohin sie geht? Da müsste Helfrich erst einmal nachschauen. Zehn bis 20 Aufträge gibt es pro Jahr. Für 1990 Euro kann man die Königin – gipsweiß – zu sich nach Hause holen. Wer sie „geschminkt“ möchte im ägyptischen Blau, muss 8900 Euro investieren. „Inklusive des neuen Edelsteinauges“, sagt Helfrich, „das alte Harzauge hat ausgedient.“

Nofretetes „Visagistin“ macht gerade Urlaub. Fünf Wochen braucht sie für das königliche Make-up. Während er uns das Malzimmer erklärt, grübeln wir darüber, wohin die Königin heutzutage eigentlich passen könnte. Womöglich in unser Wohnzimmer? Ziel sei es, erzählt uns Helfrich gerade, die Nofretete so zu arbeiten, dass man auf „einen Meter Abstand nicht unterschieden kann, ob sie echt oder unecht ist“. Es gibt verschiedene Kunden, Privatpersonen, Filmproduktionen oder etwa ein Museum in Shanghai, das eine Vergleichsschau zeigen möchte: altes Ägypten versus altes China.

Für ihre Fertigung gibt es drei Mastermodelle. Es ist wie mit der Mode: Auch die Königin ändert ihren Stil. Der Klassiker ist der Entwurf von Tina Heim aus den Jahren 1914 bis 1971. Eine zweite Ausführung existiert nach einer „photographischen Erfassung“ aus dem Jahr 1971. Das auf einem Scan basierende Modell von 2010 gilt als die modernste Variante. Nur wenn wir ganz genau hinschauen, sehen wir: Nofretete hat sich quasi Botox spritzen lassen. Augenlieder und Mundpartien sind konturierter.