Sommer 1936: Ein furioses Buch vergegenwärtigt die Tage der Olympischen Spiele in Berlin
Wer an die Olympischen Sommerspiele in Berlin 1936 denkt, dem kommt vielleicht zuerst die Sache mit Jesse Owens in den Sinn. Owens, 1913 in Oakville im US-Bundesstaat Alabama geboren, war der alle anderen Athleten überstrahlende Held der Spiele. Er brachte vier Goldmedaillen nach Hause: über 100 Meter, über 400 Meter, im Weitsprung und in der 4 x 100-Meter-Staffel. Ein zählebiger Mythos besagt, dass Adolf Hitler Owens wegen dessen dunkler Hautfarbe die Gratulation verweigerte. Es war etwas komplizierter, aber dazu später.
In Owens nämlich spiegelt sich ein Widerspruch, der Historiker von jeher fasziniert und die Spiele von 1936 zu den meistreflektierten der Sportgeschichte gemacht hat: Ein im Kern ebenso rassistisches wie nationalistisches Regime war der Gastgeber einer Veranstaltung, deren grundlegende Idee in der Völkerverständigung liegt. An den Spielen lässt sich zugleich im Rahmen eines überschaubaren Zeitraums erzählen, wie sich die erst seit drei Jahren etablierte Diktatur in Deutschland nach außen präsentierte – und wie andere Nationen darauf reagierten. Das ergibt viel Stoff für strukturhistorische Darstellungen, für die Analyse von Zeichen, Gesten und Ritualen – und daran haben sich die Geschichtswissenschaften auch in einer unüberschaubaren Zahl von Studien abgearbeitet. Die Frage zum 80. Jahrestag lautet also, was man all dem noch sinnvollerweise hinzufügen kann. Dem Historiker Oliver Hilmes, der für die Stiftung Berliner Philharmoniker arbeitet, ist das auf furiose und unterhaltsame Weise gelungen.
Goebbels’ Tagebücher bilden eine zentrale Quelle
Sein Buch „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ wählt einen Zugriff, der in historischen Darstellungen selten gebraucht wird und ein Vorbild in Florian Illies’ nicht weniger spannendem Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ hat. Hilmes arbeitet multiper-spektivisch und streng chronologisch jeden der 16 Tage ab – aus Sicht von zentralen Akteuren und Statisten am Wegesrand. Wo es sich anbietet, flicht er Exkurse ein – über die Geschichte des olympischen Fackellaufs etwa, die mit den Spielen von Berlin begann, oder über den Wettkampf als massenmediales Phänomen. Aber die personale Erzählperspektive bleibt durchgängig das Bauprinzip dieses Buches, das seine Spannung aus der Verschiedenheit seiner Charaktere bezieht. Sie reichen vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels über den amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe bis hin zu ganz normalen Berlinern, in deren Alltag die Olympischen Spiele nur am Rande eine Rolle spielten.
Goebbels’ Tagebücher bilden eine zentrale Quelle für die Zeit der Spiele – wie sie natürlich auch das Selbstzeugnis eines demagogischen Zwangscharakters sind. An den Einträgen lässt sich ablesen, was sich das NS-Regime von den Spielen versprach und was es daran verachtete. Die weihevolle Tradition der olympischen Wettkämpfe gab eine ideale Gelegenheit, Hitler als cäsarengleiche Figur zu inszenieren und die Länder in Sicherheit zu wiegen, sie über die wahren Ziele der Nationalsozialisten zu täuschen. Die Granden des Internationalen Olympischen Komitees und ihre Gegenwart in Berlin waren ihnen da nicht mehr als ein lästiges Übel. „Die Olympianer sehen aus wie Direktoren von Flohzirkussen“, schrieb Goebbels, der sich zu jener Zeit außerdem mit einer lange zurückliegenden Affäre seiner Frau Magda herumzuschlagen hatte, von der ihn ausgerechnet sein Intimfeind Alfred Rosenberg informiert hatte. Es sind solche Abschweifungen und Nebensächlichkeiten, die den Charme dieses Buches ausmachen und ihm immer wieder überraschende Wendungen geben.
Unterdessen findet unendlich viel Leben in Berlin statt. Thomas Wolfe trifft sich mit Ernst Rowohlt und verabschiedet stattliche 14 Flaschen Weißwein – so wie er überhaupt eintaucht in das auch 1936 noch florierende Nachtleben der Stadt, das die wilden 20er-Jahre in ihren letzten Ausläufern konservierte. Und natürlich besucht er das Olympiastadion: „Von seinem Platz hat Tom nicht nur einen perfekten Blick auf die Wettkampfstätte, sondern auch auf die etwas oberhalb der Diplomatenloge liegende ‚Führerloge‘. Wolfe dreht seinen Kopf ein klein wenig und erkennt sofort Hitler, wie er unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrutscht.“
Und Jesse Owens? Seine Triumphe erklärte sich Hitler wie gewohnt mit rassistischen Schablonen. „Menschen, deren Vorfahren aus dem Dschungel stammten“, erklärte er Albert Speer, „seien primitiv – athletischer gebaut als die zivilisierten Weißen. Sie seien eine nicht zu vergleichende Konkurrenz, und folglich müsse man sie von den zukünftigen Spielen und Wettbewerben ausschließen.“
Hitler verweigerte Owens nicht aktiv die Gratulation, sondern das IOC erklärte die Ehrerweisung durch das Staatsoberhaupt als protokollwidrig. Hitler war sicher in diesem Fall dankbar dafür.