Definieren Sie „bemerkenswert“. Als das Theatertreffen diese Aufgabe vor ein paar Jahren mehr als 100 prominenten Theatermachern und –liebhabern stellte, antwortete zum Beispiel Autorin Sibylle Berg: „Das Wort muss von einer professoralen Person mit angehobener Braue ausgestoßen werden und meint: war ja grauenhaft.“
Die siebenköpfige Jury dagegen dürfte eine optimistischere Definition haben, von der allerdings keiner Genaueres weiß. Fakt ist: „Bemerkenswert“ ist laut Verfahrensordnung das entscheidende Kriterium für eine Einladung zur großen Theaterleistungsschau nach Berlin. An diesem Mittwoch werden im Haus der Berliner Festspiele jene zehn Inszenierungen des deutschsprachigen Raums vorgestellt, die auf dieser Basis die Gnade der Jury gefunden haben und beim 53. Theatertreffen vom 6. bis 22. Mai dabei sein dürfen.
Ausgerechnet Sibylle Bergs Mütter-Töchter-Stück „Und dann kam Mirna“, das Sebastian Nübling am Maxim Gorki Theater inszenierte, hat da gute Chancen. Das Gorki Theater hat neben Frau Berg noch eine zweite potenzielle Kandidatin im Rennen. Die israelische Regisseurin Yael Ronen, die im vergangenen Jahr mit ihrem Balkan-Stück „Common Ground“ eingeladen war, hat nachgelegt und mit „The Situation“ einen klug-komischen Deutschkurs inszeniert, in dem Sprachen und kulturelle Identitäten aufeinanderprallen.
Viele Jahre lang wurde die Schaubühne nicht nominiert
Abräumer des Jahres aber könnte die Volksbühne werden. Vielleicht sogar wieder mit einem Hattrick, wie damals, im Erfolgsjahr 2012, als Berlin mit fünf eingeladenen Inszenierungen die Hälfte der Gesamtauswahl stellte und drei von der Volksbühne kamen. In diesem Jahr könnten das sein: Herbert Fritschs knallbunte und kurzweilige Sprachspiel-Hommage an Konrad Bayer „der die mann“. Zweitens war auch René Pollesch wieder hochproduktiv, von seinen drei Berliner Inszenierungen hat vor allem „Service/No Service“ das Zeug zu einer Einladung. Allein schon wegen der wunderbaren Kathrin Angerer. Drittens schließlich hat Hausherr Frank Castorf mit einer vibrierenden, überfordernden aber beglückenden Sieben-Stunden-Inszenierung von „Die Brüder Karamasow“ seinen Dostojewski-Zyklus abgeschlossen. Ein ziemlich klarer Favorit. Es wäre seine 15. Theatertreffeneinladung, das ist Platz vier im Ranking aller jemals eingeladenen Regisseure. Zwei Plätze vor ihm steht Claus Peymann vom Berliner Ensemble, seine letzte Einladung liegt 15 Jahre zurück. Das wird wohl wieder nichts werden dieses Jahr.
Auch die Schaubühne war lange nicht dran, zuletzt 2006 mit „Hedda Gabler“, Das kann sich dieses Jahr ändern, denn sie hat einen Last-Minute-Kandidaten. Das Jury-Jahr endet nicht kalendarisch, sondern erst kurz vor der Verkündung, in diesem Fall war die Deadline am 28. Januar. Kurz davor inszenierte der Schweizer Aktivist und Theatermacher Milo Rau am Lehniner Platz „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ als hochaktuelles, aufwühlendes Doku- und Erzähltheater. Zeitgenössisches und Kontroverses wird gerne genommen, das könnte nach dem Geschmack der Jury sein. Auch das Deutsche Theater hat erst auf den letzten Drücker seine Chancen erhöht. Mit der gerade mal zwei Wochen alten Inszenierung von Eugène Labiches „Die Affäre Rue de Lourcine“, für die Karin Henkel bürgerliche Biedermänner in ein wahnwitziges Identitätsdilemma schickt.