Kultur

Nichts ist, wie es scheint

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Stefan Kirschner

Bei Karin Henkel wird Labiches „Die Affäre Rue de Lourcine“ zu einem Theaterereignis

Er ist nicht der einzige französische Vielschreiber, aber wahrscheinlich der produktivste: Eugène Labiche (1815–1888) werden 175 Theaterstücke zugeschrieben, und das, obwohl er mit 52 Jahren beschloss, kein weiteres mehr zu schreiben. Er hat sie nicht alle selbst verfasst, er hatte Mitarbeiter, belieferte den Markt mit den Unterhaltungsstoffen, die dieser verlangte. Labiche war eher Unternehmer denn Dramatiker, aber seine Boulevardkomödien funktionierten verlässlich. Angeblich soll ein Zuschauer in einer Aufführung nach einem heftigen Heiterkeitsanfall einen Herzinfarkt erlitten, sich also im wahrsten Sinne des Wortes totgelacht haben.

Die Zeiten haben sich geändert, die Gefahr dürfte heute geringer sein, aber lustig sind die Stücke noch allemal. Naturgemäß auch relativ dünn, weshalb Staatstheater gern zugreifen, denn so ein Boulevardtheaterstück bietet vielfältige Gestaltungs- und spielerische Rechtfertigungsmöglichkeiten.

1988 brachte die Schaubühne „Die Affäre Rue de Lourcine“ in einer Neuübersetzung von Elfriede Jelinek heraus, diese Fassung verwendete jetzt auch Regisseurin Karin Henkel am Deutschen Theater. Am Sonntag fand die Premiere statt, das Publikum feierte die 90-minütige Inszenierung. Die Handlung ist schnell erzählt: Der Pariser Bürger Oscar Lenglumé hat am Abend einen ordentlichen Schluck über den Durst getrunken. Er wacht am nächsten Mittag immerhin im Bett und noch dazu im eigenen auf. Aber er kann sich an nichts mehr erinnern. Filmriss. Außerdem scheint da noch ein anderer Typ zu sein. Die Indizien verdichten sich, dass die beiden im Suff ein Kohlenmädchen umgebracht haben. Sie setzen alles daran, die Tat zu vertuschen. Inklusive der Beseitigung möglicher Zeugen.

Karin Henkel inszeniert „Die Affäre Rue de Lourcine“ als Groteske. Man wähnt sich in einer Art Leichenhalle. Die Füße, die oben aus der Luke herausragen, scheinen einem Toten zu gehören, bodenlange weiße Vorhänge begrenzen den liliengeschmückten, von Henrike Engel gestalteten Raum. Der sich verdoppelt und verdreifacht – wie die Figuren. Die sich zudem in einer Art Wiederholungsschleife befinden. Regisseurin Henkel spielt mit dem Raum – und der Zeit. Die Digitaluhr über der Bühne springt mal vor, mal zurück. Nichts ist, wie es scheint.

Die Figuren sind keine Karikaturen, sie sind nur leicht überzeichnet wie der Lippenstift der Hausherrin Norine. Anita Vulesica ist die abgeklärte Gattin, die von ihrem Ehemann, den sie wie ein Kind behandelt, nicht viel mehr erwartet, als dass er pünktlich zur anstehenden Kindstaufe erscheint. Michael Goldberg als Oscar schafft es nur, seine Norine zu küssen, wenn er gleichzeitig die attraktive Kammerzofe Justine (Wiebke Mollenhauer) betatscht. Justine gibt es zusätzlich in zwei männlichen Varianten (Christoph Franken, Camill Jammal), die sich natürlich allein gewichtsmäßig einer Püppchenrolle verweigern. Felix Goeser gibt den Saufkumpanen Mistingue als schlichtgestrickten Tatmenschen, der über Leichen geht.

Die Frage „Wer bin ich?“ schwebt über dieser Inszenierung, mit der Henkel an ihren Züricher „Amphitryon und sein Doppelgänger“ anknüpft. Der war zum Theatertreffen 2014 eingeladen – und wurde auch im Deutschen Theater gezeigt. Vielleicht klappt’s ja erneut: Weil diese kluge Inszenierung bestens unterhält, weil sie ästhetisch ein Knaller und schauspielerisch ein Ereignis ist.

Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Mitte. Termine: 20. und 22. Januar, 15. und 24. Februar, Karten: 28441-225.