Arvo Pärts Website führt getreulich alle Aufführungen auf, von denen sein Büro Kenntnis erhält – ob in Brasilien, in Holland, in Australien, in Kanada oder Kuala Lumpur, in Magdeburg oder in New York. Mag sein, dass der Komponist mit der Aura eines Einsiedlermönchs die weltabgewandteste Musik der Welt schreibt. Aber die ganze Welt will sie hören. Wie kann es sein, dass diese hermetisch wirkende, nach ihren eigenen strengen Gesetzmäßigkeiten geschaffene Musik eines tief Gläubigen der russisch-orthodoxen Kirche, der in seiner Vokalmusik nahezu ausschließlich biblische Texte vertont, ungeachtet kultureller Grenzen, Unterschiede, Feindschaften allüberall gehört wird? Es muss wohl so sein, dass Pärts Musik etwas verhandelt und berührt, das den Menschen in seiner nackten Seele ergreift.
Der Geiger Gidon Kremer, einer der großen frühen Interpreten seiner Musik, nennt Pärts Idiom eine „Zaubersprache“; ihr Geheimnis ist radikal. Es kann und darf von jedem entdeckt werden und entzieht sich doch der Sprache der Wörter. Am 11. September feiert Arvo Pärt, mit Grammys und Großauszeichnungen wie dem Praemium Imperiale geehrt, seinen 80. Geburtstag. Wer ihn sieht, leicht gebeugt, hager, Haar und Bart eher nach Art der Bahnhofsmission frisiert, spürt das Bedeutungslose alles Äußerlichen. Als er in Tokio den Praemium Imperiale entgegennahm, trug Pärt Smoking – und blieb doch mit jeder Faser seines Wesens die zutiefst demütige Erscheinung, als die er durch die Welt huscht. In einer Dokumentation, die Arte am 27. September zeigt, sieht man ihn am Steuer eines Autos. Der in Lankwitz lebende Messias der anti-neuen Musik hat also seine fünf Sinne beisammen. Was vielleicht noch schockierender ist: Pärt kann auch sehr lustig sein.
Der Ruhm des 1935 in Paide, Estland, geborenen Komponisten setzte erst vor 30 Jahren ein. Nachdem Manfred Eicher, der Begründer des Münchner Labels ECM, ein Stück von Pärt im Radio gehört hatte, wollte er umgehend Musik von ihm aufnehmen. Mit dem 1984 erschienenen Album „Tabula Rasa“ begründete Eicher auch die zweite Linie seiner Edition, die NewSeries.
Zu Pärts 80. Geburtstag hat Eicher jetzt unter dem Titel „Musica Selecta“ auf zwei CDs eine Art klingendes Reisebuch ihrer langen gemeinsamen Wegstrecke in 18 Stationen vorgelegt. Die Auswahl wird mühevoll gewesen sein. Doch Eichers Auswahl ist persönlich und gerade deshalb überaus charakteristisch für Pärts Schaffen. Von „Für Alina“ (1976), dem ersten Stück des einst in der UdSSR als westlich-dekadenter Neutöner diffamierten Komponisten nach achtjährigem Schweigen, bis zu „Da Pacem Domine“ (2004/07), zeigt die „Musica Selecta“ 18 Versuche von Pärts „in Noten gesetzter Suche nach Licht“, wie der Komponist selbst sein Schaffen umschreibt.
Tom R. Schulz