Mit der Witwe des Baritons Dietrich Fischer-Dieskau haben wir seinen Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek gesichtet

Dieter. Sie sagt immer nur Dieter. Und man könnte meinen, er käme gleich ins Zimmer, um mal zu sehen, was sie hier so über ihn erzählt. Er – Dietrich Fischer-Dieskau, deutsches Kulturmonument, einer der berühmtesten Sänger des 20. Jahrhunderts, für viele ist „FiDi“ bis heute der unerreichte König des Kunstlieds. Sie – Julia Varady, seine vierte Frau und Witwe – selbst eine heiß geliebte Sopranistin, heute eine so gesuchte wie strenge Lehrerin. Das Zimmer – ein Dienstraum in der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden, wo auf einem Tisch und einem Schiebewagen ein paar repräsentative Teile dessen liegen, was von dem großen Sänger geblieben ist.

Nicht sein tönendes Erbe ist hier gemeint, die Hunderte von Aufnahmen, die der lyrische Bariton als der wohl meistaufgenommene Sänger überhaupt zwischen den späten 40er- und den frühen 90er-Jahren eingesungen hat und die als Inkunabeln in den diversen Plattenfirmenarchiven gehütet wie fleißig wiederverwertet werden. Sondern sein persönliches Archiv, die Noten mit seinen Anmerkungen, Programmhefte, die frühen noch auf stark holzigem Papier. Die von ihm benutzten LPs und CDs, die Korrespondenz mit den vielen Legenden der Musikgeschichte, Terminkalender, Fanpost, Zeitungsartikel und Kritiken, der „Spiegel“-Titel von 1964, schöne und hässliche Plattenpreise, Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden.

„Wie ein Lagerhaus“

Dietrich Fischer-Dieskau hat nicht nur gesungen, er hat dirigiert, Bücher geschrieben, Bilder gemalt. Und er hatte, der ist naturgemäß nicht in diesem Büro, einen Flügel, in dem sich viele von denen, mit welchen er gearbeitet hat, per Filzstift auf dem Stahlrahmen einschreiben mussten: seine Klavierbegleiter Hertha Klust, Karl Engel, Jörg Demus, aber auch Aribert Reimann, Claudio Arrau, Wilhelm Kempff, Leonard Bernstein, Daniel Barenboim. Man meint, sie alle noch kichern zu hören, wie sie da hineinkriechen mussten und auf der glatten Oberfläche rumschmierten.

„Unser Haus in Berg, wo er eingeschlafen ist, ist immer noch wie ein Lagerhaus“, stoßseufzt Julia Varady mit ungarischem Theatertemperament. Und wenn man jetzt nur die Spitze dieses inzwischen in hundert Archivkisten eingesargten Nachlass-Eisberges sieht, dann wird schnell klar: Dieser Mann hat alles korrekt aufgehoben. Dietrich Fischer-Dieskau, das ist das männliche Klassikpendant zur notorischen Jägerin und Sammlerin Marlene Dietrich.

Zwei sehr ordentlich deutsche Leben also. Das eine freilich noch unvollständig erschlossen. „Die Liebesbriefe mit den früheren Frauen, die habe ich noch nicht angeschaut. Das ist mir zu intim“, flötet die Varady. „Aber das Porträt, das er von seiner zweiten Frau Ruth Leuwerik gemalt hat, das habe ich ihr geschenkt. Sie hat sich sehr gefreut und gemeint, sie wäre doch gar nicht wichtig gewesen. Stimmt nicht, sie hat dem Dieter viel Schauspielerei beigebracht.“

Andere seiner Zeichnungen hatte Julia Varady einst zu Mappen binden lassen und als Reproduktion im privaten Kreis verschenkt: „Alles hat er gemalt, die Bäume vor dem Fenster, aber auch die Kommode im Hotelzimmer.“

Ein Leben im Koffer, hin und her pendelnd zwischen der Welt, dem bayerischen Haus am Starnberger See und der Berliner Villa im Westend. Fischer-Dieskau wurde nach seinem Tod am 18. März 2012 in dem Charlottenburger Ortsteil in einem Ehrengrab beigesetzt.

Um den Nachlass hatte sich der Sänger schon zu Lebzeiten gekümmert, erst war man im Gespräch mit der Berliner Akademie der Künste, doch nach dem Abgang von Walter Jens riss der Kontakt ab. Schließlich schien die Staatsbibliothek mit ihrer reichen Musikalienabteilung der richtige Ort für die großherzige Schenkung. Hier liegen nicht nur die Originalpartituren der Matthäus-Passion und der „Zauberflöte“, sondern eben auch jene weltliche „Bauern-Kantate“ Bachs, die sich Carl Heinrich von Dieskau, kurfürstlich-sächsischer Kammerherr, auf dem Rittergut Kleinzschocher bei Leipzig, am 30. August 1772 samt einem großen Feuerwerk für seinen 36. Geburtstag bestellt hatte. Auf den illustren Nachfahr und die gute Gesellschaft wäre der Mann sicher stolz gewesen.

Man kann jetzt also, hat man sie aus dem raschelnden Seidenpapier ihrer pappgrauen Kartons entnommen, in seinen penibel getippten und verbesserten Buchmanuskripten blättern. Zum Beispiel in „Wenn Musik der Liebe Nahrung ist“ über Künstlerschicksale im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der französischen Altistin Pauline Viardot-Garcia – wieder ein von ihm nicht unbedingt erwartetes Thema.

In Flirtlaune

Aber vor allem sind da die Briefe an FiDi. Dokumente der Freundschaft wie musikgeschichtlich penibler Arbeitsbeziehungen. Die der Zelebritäten und die Fanpost, die gleichwertig abgelegt wurde. Sie erzählen darüber hinaus von einer Zeit, als man noch Telegramme schickte und sich schriftlich eloquent artikulieren konnte.

Was flattert einem da alles entgegen! Lotte Lehmann, eine der größten Strauss-Sängerinnen ihrer Zeit, ist 1959 in Flirtlaune mit dem aktuell besten Mandryka, dessen Arabella sie altersmäßig leider nicht mehr sein kann. Der als schlimmer Schinder verschriene Dirigent George Szell mahnt 1969 in feinstem Deutsch den „lieben Dieter“ in einem Postskriptum: „Überarbeiten Sie sich nicht!“ „May your art go on for­ever“, wünscht sich 1988 Claudio Arrau, der Grandseigneur am Klavier. Und ein anderer Claudio – Abbado – freut sich, dass er durch FiDi die Brahms-Orchesterbearbeitung von Schubert-Liedern kennengelernt hat.

Benjamin Britten, der für ihn als Deutschen die Baritonstimme im politisch so wichtigem „War Requiem“ komponiert, hofft, dass „the part lays happily for your voice“. „Spiegel“-Leser Wieland Wagner bietet ihm sofort per Telegramm die Bayreuther Rollen, die er eingefordert hatte. Ein „Mr Barenbom“ wünscht, an eine schlechte Aufnehmerin geraten, „a splendid Winteraise“ in Edinburgh.

Dann sind da die Dumbo-Zeichnung eines Fans („Mit so großen Ohren sitzen wir im Parkett, wenn Sie singen!“) und die rührenden Zeilen eine Plattenladenmädchens, das sich die 7,60 Mark für ein Dieskau-Ticket nicht leisten konnte, deshalb um ein Autogramm als Ersatz bittet. Alles aufgehoben. So liegt der große Dietrich Fischer-Dieskau jetzt vor einem – nicht als Denkmal, als Mensch.