Seit Oktober 2014 liefen die Verhandlungen zwischen Chris Dercon, Chef der Londoner Tate, und Kulturstaatssekretär Tim Renner (SPD). Am Ende hat sich der Belgier für Berlin entschieden.
Berliner Morgenpost: Ihre Ernennung wurde begleitet von einem beispiellosen Theaterstreit. An Ihrer Befähigung, ein Theater zu leiten, gibt es Zweifel.
Chris Dercon: An meinem Bett liegt das Buch „Organisation und Störung“ eines Mentors, des Soziologen Dirk Baecker. Ein guter Manager ist jemand, der die Konflikte und Debatten nicht scheut, sondern von ihnen lernt.
Sie sehen sich also als Manager?
Auch, aber nicht nur. Ich denke, ich bin ein ganz guter Human-Resources-Manager. Ich bin aber auch Produzent, ich arbeite gern im Team, und ich liebe Horizontal-Leadership. Das passt zur Volksbühne, die ja aus einer Gruppe von autonomen Künstlern besteht, die sich konstant austauschen und Dinge zusammen machen. Auf der anderen Seite: Ich bin kein autoritärer Museumsdirektor, kein genialer Künstler, ich war früher der schlimmste Performance-Künstler Belgiens. Meine erste Ausstellung habe ich nicht im Museum gemacht, sondern auf einem Tanzfestival in Belgien.
Ist das die Erklärung dafür, dass es so viele Aversionen gegen Sie gibt von Herren wie Peymann, die noch für einen patriarchischen Führungsstil stehen?
Nein, die Diskussion, die Herr Peymann und Herr Flimm führen, ist eine alt bekannte Debatte, die sich in Abständen immer wiederholt. Ensemble oder Event? Was ist die Struktur eines Theaters? Was sind die Arbeitsbedingungen? Die Diskussion ist wie ein Blueprint, da geht es nicht um persönlichen Geschmack oder Genialität. Es geht um die Struktur von Theater: Was kann, was soll Theater in Zukunft leisten? Wie sollen wir Theater organisieren? Theater ist ein Ort der Begegnung. Theater imitiert nicht mehr die Welt, es ist inzwischen umgekehrt: Die Welt imitiert das Theater. So entstehen politische Dramen.
Gab es einen Moment in den vergangenen vier Wochen, in dem Sie sich gedacht haben: Wisst Ihr was, macht Euer Zeugs alleine?
Nein, den gab es nicht. Mein Vater kommt aus der Politik und der Stadtplanung. Als Kind habe ich es erlebt, wie die Bauern vor unserem Haus aus Protest Dreck gekippt haben. Ich bin also einiges gewöhnt. Ich würde wirklich gerne wissen, was an einem Kurator so schlimm sein soll. Ein Kurator ist auch jemand, der heilt, sorgt, sich kümmert.
Kurzum, es gab keinen Moment, an dem Sie persönlich getroffen waren.
Nein, nicht eine Sekunde.
Wie viel Theater bleibt noch in der Volksbühne?
Ganz viel, ich liebe Theaterstücke, aber auch Tanz und Experimente, ich liebe es, Texte zu hören.
Wo bleiben die Schauspieler?
Man kann kein Theater machen ohne Schauspieler. Schauspieler von heute können auch tanzen und singen. Ohne sie geht gar nichts. Die Frage, die man stellen muss, heißt: Wie sieht ein Ensemble in der Zukunft aus?
Wie wollen Sie 2017 Ihre Spielzeit beginnen?
Dafür ist es noch zu früh. Zunächst möchte ich die 232 Mitarbeiter der Volksbühne kennenlernen. Ich schätze ihre Arbeit enorm. Das Zweite ist, dass wir in der neuen Führungsriege über Theater nachdenken und uns fragen wollen, wie die Zukunft des Theaters aussieht. Dann werden wir konkrete Ideen entwickeln. Am Ende dieses Prozesses kann ich einen Spielplan präsentieren.
Haben Sie sich mit Frank Castorf getroffen?
Ich habe ihn das letzte Mal gesehen auf dem Fest 100 Jahre Volksbühne, also vor vier Monaten. Wir haben uns wunderbar unterhalten.
Wann steht das Treffen mit Peymann an?
Ich kenne ihn aus meinem Studium der Theaterwissenschaft, ich habe mir so viel anschauen dürfen von ihm. Ich habe 1990 noch einmal „Der Weltverbesserer“ von Thomas Bernhard gesehen. Ich werde sicher auch künftig Stücke von ihm sehen, denn er ist eine Legende.
Wir dachten mehr an das persönliches Gespräch.
Wenn sich die Gelegenheit ergibt, sehr gern. Ich treffe mich gern mit älteren Menschen. Dabei kann man viel lernen.
Die Befürchtung, dass in der Volksbühne weniger Theater gespielt werden wird, ist angesichts des künftigen Leitungsteams nachvollziehbar: Da versammelt sich die Expertise von Tanz, Film und Choreografie.
Der Eindruck ist falsch. Ich tanze nicht nur gerne im August („Tanz im August“ heißt das Tanzfestival, das im Sommer an verschiedenen Bühnen stattfindet, d. Red.), sondern über das ganze Jahr. Und die Volksbühne ist unglaublich gut geeignet für den Tanz. Wissen Sie, warum an der Volksbühne die Schauspieler immer so viel schreien? Nicht nur wegen der Regieanweisungen, sondern weil die Akustik so furchtbar ist. Ich war mit einem japanischen Akustik-Ingenieur in der Volksbühne, und er sagte in seinem japanischen Englisch: „Mister Dercon, this is a big problem.“ Keine Sorge, wir werden ganz viel Theater und ganz viel Tanz auf der Bühne der Volksbühne präsentieren.
Das wird sich also ändern.
Genau. Denn Tanz ist eine ganz wichtige Disziplin, die auch sehr gefährdet ist, weil sie viel Geld kostet.
Mit anderen Worten: Auf der Volksbühne wird kein Stein auf dem anderen bleiben.
Das sehe ich nun überhaupt nicht so. Wir werden die Repertoirestruktur behalten, und ich werde die Erfahrung, die ich am Haus vorfinde, natürlich auch nutzen. Was wir machen werden, ist im Grunde die Konsequenz aus der Arbeit von Castorf.
Was ist eine Eventbude?
Mich interessieren Events überhaupt nicht. Events sind punktuelle Ereignisse, die das Theater keinen Millimeter nach vorne bringen.
Mögen Sie Spektakel?
Pollesch ist Spektakel. Tocotronic ist Spektakel. Natürlich liebe ich Spektakel. Castorf ist auch Spektakel, wobei bei ihm die Stücke für meinen Geschmack oft zu lange dauern. Es fällt nicht immer leicht, fünf Stunden durchzuhalten.
Nach Neil MacGregor, der der Gründungsintendant des Humboldt-Forums wird, sind Sie der zweite Mann aus London, der nun nach Berlin wechselt. Wie kommt das?
Berlin ist eine kosmopolitische Stadt. Und die Stadt tauscht sich mit London aus, viele Menschen pendeln zwischen den Städten, so wie auch Wolfgang Tillmans, mit dem ich 2017 meine letzte Ausstellung im Tate machen werde. Auch das Berghain finde ich interessant, in seiner Mischung aus Körper, Technik und Tanz.
Kommen Sie denn immer rein ins Berghain?
Mit Wolfgang Tillmans, ja.
Ihre Ankunft 2017 wird in der Berliner Theaterlandschaft wie die Ankunft eines Marsmenschen aufgenommen werden: Interessant, aber doch irgendwie anders.
Und dann redet er auch noch flämisch-deutsch. Die Volksbühne ist wie ein Ozeanriese. Wenn man ihn ein wenig in eine Richtung lenken möchte, gibt es eine riesige Bewegung. Also muss man als Kapitän aufpassen, dass man die Lenkung nicht überdreht. Dann kippt das Schiff um.
Und Sie?
Ich habe bereits mit riesigen Häusern gearbeitet. Ich glaube, ich bin ein ganz guter Schiffskapitän.

Foto: Reto Klar