Mehr als 800 Quadratmeter – das ist eine satte Fläche, die der Berliner Zeichner Felix Pestemer im Museo de Arte Popular füllt. Am 15. Oktober ist der 39-Jährige mit seinem Kurator Jurek Sehrt nach Mexiko-Stadt geflogen. Seine Bilder hatte er schon am 8. Oktober aufgegeben. Vom Flughafen ging es direkt zum Museum für Volkskunst an der Calle Revillagigedo, wo die beiden Männer alle Zeichnungen aufhängten. Am 22. Oktober gibt es eine Voreröffnung – auf Wunsch von Maria Böhmer, Staatsministerin im Auswärtigen Amt –, und am 25. Oktober ist der offizielle Beginn. Die Ausstellung „El polvo de los antepasados“ umfasst mehr als 50 Bilder. Es sind großformatige Originale zu Pestemers Graphic Novel „Der Staub der Ahnen“, so heißt der Ausstellungstitel auf Deutsch. Außerdem will Pestemer Skizzenbücher, Quellenmaterial und den Animationsfilm „Peyotl“ zeigen, eine Zusammenarbeit mit Motion Grafiker Max von Bock und dem Musiker Tim Kroker.
Damit schließt sich ein Kreis: Der Wahlberliner kehrt zum Ursprung seiner Arbeit zurück. Denn die Inspiration zu seiner Geschichte über den Totenkult der Mexikaner rund um den „Día des los Muertos“, das mexikanische Totenfest, hat Pestemer sich vor mehr als zehn Jahren in dem Museo geholt, wo er etliche tanzende Skelette, Votivbilder und Altar-Objekte sah. Jetzt zeigt dasselbe Museum, wie der Künstler seine Eindrücke verarbeitet hat.
Pestemers Bilder waren bereits in neun europäischen Städten zu sehen, darunter die Comic-Hochburgen Angoulême und Brüssel, außerdem in Linz, im Museum für Sepulkralkultur in Kassel und der mexikanischen Botschaft in Berlin. In Mexiko wird die Schau bis zum 22. Februar 2015 gezeigt, also auch während des Totenfestes vom 31. Oktober bis 2. November. Dann, wenn die Christen Europas Allerheiligen und Allerseelen begehen. „Ich komme aus dem protestantisch geprägten Braunschweig und kenne Allerheiligen und Allerseelen wie auch den Totensonntag noch als Feiertage zur inneren Einkehr“, sagt Pestemer.
Zu Ehren der Verstorbenen
In Berlin ist das Gedenken schon länger extrovertiert. In der Mexikanischen Botschaft – 1325 Mexikaner leben in der Stadt – wird ein Altar, „ofrenda“, zu Ehren der Verstorbenen aufgebaut, und der Verein Calaca richtet – seit dem Engagement von Mario Vázquez vor mehr als 20 Jahren – im Theater im Aufbauhaus am Moritzplatz das Mexikanische Totenfest aus (vom 31. Oktober bis 2. November). Und das Museum für Naturkunde kündigt für den 31. Oktober eine „schaurige Halloweenparty mit blutrünstigen Vampiren, Blausäure-Elefanten, Zyklopen und Grabwespen“ an.
Pestemer freut sich „wie Hölle“ auf seine Reise nach Lateinamerika. Er hat jahrelang dort gelebt. Vor 14 Jahren war er erstmals in Mexiko und besuchte mit Freunden aus seinem Spanischkursus seine Lehrerin am Tag der Toten zuhause, „da habe ich meine erste ofrenda gesehen“ und einen Friedhof in Yucatán. Der Tod hatte schon zuvor Einzug in Pestemers Leben gehalten – quasi auf Befehl. „Die erste dicke Ladung habe ich als Zivi abbekommen“, erinnert er sich. 1994 war Wehrdienst noch Pflicht, der 19-jährige Pestemer verweigerte und musste 15 Monate in der Geriatrie arbeiten. „Ich habe Menschen sterben sehen, sie danach gewaschen und zurecht gemacht.“ Später erlag Pestemers Großmutter den Folgen eines Oberschenkelhalsbruches. Und schließlich starb die Mutter eines engen Freundes an einer Lungenembolie.
Die Toten kommen für eine Nacht zurück
In unserer Kultur, sagt Pestemer, sei der Tod etwas Unreines, Fremdes, Bedrohliches, das verdrängt würde. Nicht so in Mexiko. Dort gehen die Lebenden in die Offensive. Tage- und nächtelang feiern sie die Verbindung zu ihren Ahnen. Sie machen den verstorbenen Geschenke, schmücken Altäre mit Fotos und Blumen und Süßigkeiten, Schnaps und Schokolade – Dinge, die die Verstorbenen mochten. Bekannt ist das Kunsthandwerk mit Totenköpfen aus Zuckerguss oder papiernen Skelettgirlanden, wie sie auch Melanie Pletz und Mario Behringer in ihrem Laden „Superskull“ in Kreuzberg verkaufen. In Mexiko pilgern Familien auf Friedhöfe. Sie essen und trinken, singen und tanzen die ganze Nacht an und auf den Gräbern. Dahinter steht der Glaube, die Toten kämen für diese Zeit unter die Lebenden zurück.
„Dass Mexikaner deswegen besser vorbereitet sind, jemanden gehen zu lassen, glaube ich nicht“, sagt Pestemer, „aber sie haben andere Formen gefunden oder sich bewahrt, Trauer auszusprechen und ihr Beileid zu bekunden. Sie tragen ihre Gefühle nach außen.“
So ausdrucksstark Pestemers Bilder auch sind – privat hat er die Rituale nicht übernommen und zuhause keinen Altar für seine Toten aufgestellt. Doch wenn er und Jurek Sehrt Anfang November in Mexiko sind, werden sie mit den Mexikanern feiern. „Wir fahren wahrscheinlich an den See Patzcuaro in Michoacán, wo die Nachtwache auf dem Friedhof Tradition hat, und zu einer Stadt, die noch sehr heidnisch feiern soll.“ Was heidnisch bedeutet, werden wir wahrscheinlich in einigen Monaten auf Pestemers Kalenderblättern sehen. Seit Jahren bearbeitet er die Themen Verfall und Vergänglichkeit in der Tradition des Magischen Realismus, online zu sehen unter seinem Label: www.puttbill.com
Geld verdienen mit Grafic Recording von Veranstaltungen
Pestemer hat Freie Kunst in Berlin und parallel Illustration in Barcelona studiert. Er lebt mit Frau und Töchtern in Kreuzberg. „Berlin ist ein guter Ort zum Arbeiten“, sagt er. Das kulturelle Angebot würde er, obwohl er selbst Künstler sei, kaum nutzen. „Ich habe einfach keine Zeit dafür.“ Um seine monatlichen Ausgaben zu decken unterrichtet Pestemer an der Jugendkunstschule Atrium und am Wannseeforum, Firmen buchen ihn zum Grafic Recording ihrer Veranstaltungen, Medien wollen Cartoons von ihm und Privatiers, dass er sie porträtiert. Als unser Fotograf ihn am Rechner sitzend aufnimmt, kommentiert Pestemer. „Das ist untypisch. Ich zeichne alles von Hand. Mein Hauptwerkzeug ist der Bleistift.“
Arbeit an „Hertha Hindenburg“ und dem „Neuköllner Grabtuch“
yDerzeit arbeitet Pestemer mit dem Autor Robin Jahnke an zwei neuen Graphic Novels „Hertha Hindenburg“ und „Die Schraube“, letztere in Zusammenarbeit mit Lino Santacruz Moctezuma. Außerdem plant er eine Erweiterung seines „Neuköllner Grabtuchs“. Das 260 Meter lange und 80 Zentimeter breite Bild ist ein Monster-Kompendium, das bislang mehr als 80 Figuren vereint: Gargantua von Rabelais und Doré, den chinesischen Drachen Longh, Cerberus und Quetzalcoatl, den imperialen Kampfläufer ATAT aus Star Wars sowie Kang und Kodos von den Simpsons. Ein Nachbar im Gewerbetrakt des Neuköllner Hinterhofes am Weichselplatz, wo Pestemer seit 2007 sein Atelier hat und die Räume mit acht anderen Künstlern – darunter dem deutschen Meister der Floristik – sowie dem Avant-Verlag teilt, digitalisiert das Original. Pestemer verkauft Abzüge, „für 666 Euro – versteht sich“, sagt er grinsend. 666 ist eine biblische Zahl aus der Johannes-Offenbarung, sie wird auch als Zahl des Antichristen bezeichnet. Fegefeuer hin, okkulte Zeichen her, Pestemer ist kein Satanist und er hört kein Death Metal, sondern spielt mit den Versatzstücken von Kulturen: Er nimmt sie ernst und karikiert sie doch.
So hat er im „Staub der Ahnen“ eine Parallelwelt der Verstorbenen geschaffen, in der geputzt, geliebt, gestritten wird und sogar Hausaufgaben zu erledigen sind, Totentanz inklusive. Selbst diese Welt ist endlich: Die Toten leben nur so lange, wie Lebende ihrer gedenken. Erlischt die Erinnerung, zerfallen sie zu Staub, wie es in der Genesis steht: „Denn Staub bist du und zu Staub wirst Du zurückkehren.“ In Mexiko können die Lebenden die Toten nur während der Festlichkeiten zu sich rufen. „Aber die Kulturgeschichte der Mexikaner zeichnet sich durch das Verschmelzen verschiedener Elemente aus“, erklärt Pestemer, „beim Totenkult sind es heidnische und christliche. In ihrem Synkretismus, ihrer Toleranz haben die Mexikaner nun auch meine Version akzeptiert“.
Felix Pestemer: „Der Staub der Ahnen“, avant-verlag, 24,95 Euro