Filmkunst 66

Angela Merkel wird im Kino plötzlich ganz persönlich

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Peter Zander

Foto: Fabrizio Bensch Pool / dpa

Im Berliner Filmkunst 66 stellt die Kanzlerin ihren Lieblingsfilm „Die Legende von Paul und Paula“ vor. Aus alten Erinnerungen wird sie aber schon bald wieder in die politische Realität zurückgeholt.

Gewöhnlich sieht das Verhältnis zwischen Stars und Publikum ja so aus: Die Zuschauer gehen ins Kino, um ihre Idole auf der Leinwand zu sehen. Und in ganz seltenen Fällen, bei Premieren oder Kinotouren, können sie sie auch einmal persönlich erleben. Am Sonntagabend aber, im Kino Filmkunst 66, waren die Verhältnisse verkehrt. Da gingen reichlich Stars ins Kino, um einen Zuschauer zu erleben. Und nicht irgendeinen, sondern die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die stellte hier ihren Lieblingsfilm vor, den Defa-Film „Die Legende von Paul und Paula“. Und nicht nur die Hauptdarsteller Angelica Domröse und Winfried Glatzeder kamen eigens dafür ins Kino, sondern auch Schauspieler wie Joachim Krol, Christian Berkel, Iris Berben. Und, das ist nicht ohne Pikanterie, auch Katharina Thalbach, die kürzlich erst in der TV-Satire „Der Minister“ eine wunderbare Parodie auf die Kanzlerin gegeben hat.

Der Wahlkampf steht bevor. Und da ist Charmeoffensive angesagt. Es genügt heute nicht mehr, mit politischen Inhalten zu überzeugen. Man muss auch menschlich „rüberkommen“. Und das ist bei der Kanzlerin, die sich nie in die Karten schauen lässt und nie persönlich wird, so eine Sache. Aber vor wenigen Tagen erst saß sie aus genau diesem Grund im Maxim-Gorki-Theater in einer kleinen Frauenrunde der Zeitschrift „Brigitte“. Und deshalb steht sie jetzt hier im Kino, vor der Deutschen Filmakademie. Die lädt in unregelmäßigen Abständen zu ihrer Reihe „Mein Film“ ein, in der Prominente, die nicht aus dem Filmbereich stammen, ihre Lieblingsfilme präsentieren. Die ehemalige Landesbischöfin Margot Käßmann hat hier schon mal vom „Schatz im Silbersee“ geschwelgt. Vor allem aber hat Peer Steinbrück „... die durch die Hölle gehen“ vorgestellt. Da war er noch nicht Kanzlerkandidat, aber von Helmut Schmidts Gnaden schon als solcher geweiht.

Plötzlich nicht mehr Kanzler

Nun also die Amtsträgerin selbst. Ein Vergleich drängt sich geradezu auf. Herr Steinbrück hat seinerzeit einen harten Vietnam-Kriegsfilm gezeigt, der bei seiner Berlinale-Premiere 1979 für einen Skandal sorgte und das Publikum spaltete. Frau Merkel dagegen zeigt den größten Defa-Erfolg, eine Liebesromanze von 1973, in der das Private über das Politische siegt.

Herr Steinbrück hat damals über den Film referiert, als ginge es um eine Gesetzesvorlage, immer ein bisschen schulmeisterhaft-belehrend, immer auch ein wenig besserwisserisch, als ob man ausgerechnet Filmakademikern einen Klassiker erklären muss. Frau Merkel hält sich da dezent zurück. Vor der Vorführung sagt sie nur kurz, wie sehr sie der Film damals bewegt habe. Und mal sehen, ob er das nach all der Zeit immer noch tue.

Er tut es. Er erwischt sie erneut. Angela Merkel ist nicht mehr Kanzlerin. Sie ist plötzlich wieder die 18-Jährige, die gerade ihr Abitur gemacht und als Physikstudentin nach Leipzig gezogen ist, wo sie diesen Film kurz nach der Premiere gesehen hat. Und plötzlich ist alles wieder da. Nicht nur die Liebesszenen, die sie damals schon so kraftvoll fand. Sondern die stimmigen Aufnahmen des DDR-Alltags, wie man ihn in keinem anderen Defa-Film findet, mit all seinen Missständen. Aber auch mit all dem Lebensmut. Gerade wegen seines realistischen Blicks sollte der Film seinerzeit gleich verboten werden, was Erich Honecker damals höchstpersönlich untersagte. Drei von zwölf Millionen DDR-Bürgern haben „Paul und Paula“ damals gesehen.

Nein, die Kanzlerin holt jetzt kein seitenlanges Skript aus der Tasche wie einst ihr Herausforderer, um zu erklären, wie man die Bilder zu deuten hat. Sie hat Andreas Dresen an ihrer Seite, Filmregisseur und seit jüngstem auch Laienrichter am höchsten Gericht Brandenburgs.

Der versucht sie, charmant, wie es seine Art ist, herauszufordern. Und beißt erst mal auf Granit. Ob sie noch wisse, wie das damals im Kino gewesen sei. Nein, sie könne sich nicht mehr an Genaueres erinnern. Ob sie den Film allein gesehen habe. Nun, hier immerhin huscht ein Lächeln über ihre Lippen, eine eigene Liebesgeschichte verbinde sie jedenfalls nicht mit „Paul und Paula“. Ob sie eher vorne oder hinten sitze im Kino. Natürlich lautet ihre Antwort, ganz Taktikerin: in der Mitte. Hinten, meint Dresen, säßen ja immer die, die in Ruhe knutschen wollen. „Sehen Sie!“, kontert Merkel.

Bardame statt DJ

Und doch geschieht ganz langsam ein kleines Wunder. Dresen ist ja nicht nur ein hervorragender Spielfilmregisseur, sondern auch ein Dokumentarfilmer. Er weiß, wie man die Menschen mit den richtigen Fragen auflockert. Um den Film selbst geht es schon bald nicht mehr, sondern um die Zeit damals in der DDR und wie sie sie wahrgenommen hat. Um ihr „erstes Leben“ also. Das ist gerade ein heikles Thema. Denn in den nächsten Tagen erscheint eine von vier neuen Biographien, „Das erste Leben der Angelika M.“, die ihre Erinnerungen an diese Zeit kritisch hinterfragt. Das freilich konnte die CDU-Politikerin noch nicht wissen, als sie diesen Film ausgewählt hat.

In der letzten Zeit, keineswegs zufällig, wurden plötzlich private Fotos von der Kanzlerin publik, haben wir auch von ihren Enkeln erfahren. Mit der Neusichtung von „Paul und Paula“ lässt sie uns jetzt auch an einer Re-Vision ihrer damaligen Zeit teilhaben. Frau Merkel gesteht, dass sie gern Gojko Mitic in den Indianerfilmen gesehen habe, und, auf die Hippie-Atmosphäre des Films angesprochen, als Studentin auch Disco gemacht habe.

Ja, sie hätten dabei auf 60:40 geachtet. Als Dresen „für alle aus dem Westen“ erklärt, dass damit das vorgegebene Verhältnis von Ost- zu Westmusik gemeint sei, kontert sie trocken, es sei jedenfalls nicht das Verhältnis Alkohol zu Wasser. Als er fragt, ob sie denn auch Musik aufgelegt habe, pariert sie sofort, nein, sie sei Bardame gewesen. Die Lacher, die das erzeugt, scheinen ihr nicht ganz geheuer. Sie betont, dass sie damit nichts Neues verrät. Als sei das ihre größte Sorge an diesem Abend: etwas Neues preiszugeben. Aber Stück um Stück erfahren wir dann eben doch, dass sie damals auf die Stones und „Je t'aime“ gestanden habe, dass sie passionierte Jeansträgerin gewesen und fast all ihre Kleidung aus dem Westpaket gekommen sei.

Ulrich Plenzdorf hat seine Figuren in seinem Roman gern in einem Wort geschrieben, Paulundpaula. Und irgendwie verschmelzen jetzt auch Andreasundangela zu einer Einheit. Dabei erscheint einem die Kanzlerin wie eine Muschel, die sich, auch wenn sie ihre Panzerung nur ungern aufgibt, doch ganz langsam öffnet.

Da ist nicht die übliche Handrautenverteidigung vor dem Blazer, das geht schon allein deshalb nicht, weil sie ein Mikro in der Hand hält. Aber der Rücksturz in die Vergangenheit bewirkt eben auch, dass all die Schutzmechanismen, in Jahren der Politik entwickelt und verfeinert, ein wenig durchlässig werden. Wer hätte gedacht, dass Angela Merkel so munter plaudern und sogar beherzt lachen kann. Es scheint ganz gut zu tun, wenn Politiker auch mal ins Kino gehen und mit anderen Menschen in Kontakt kommen.

Plötzlich Krisenkanzlerin

Aber dann, nun ist auch Dresen ganz mutig, dürfen noch Fragen gestellt werden. Und sogleich wird sie von der „Bild“-Zeitung auf die besagte Biographie angesprochen. Derzufolge ist Merkel, entgegen ihren bisherigen Darstellungen, an ihrem Institut in Adlershof doch FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda gewesen. Wie sie nun dazu stehe? Die gerade noch so kuschelige Stimmung kippt, der Saal stöhnt hörbar auf. Dresen will das sofort übergehen („Bitte nur Fragen zum Film“). Merkel aber wiegelt ab: „Lassen Sie, sonst heißt es wieder, wir haben es unterbunden.“ Und dann, schon wieder ganz Krisenkanzlerin: „Ich komme schon durch.“

Sie sagt, dass sie es anders in Erinnerung habe. „Wenn sich jetzt etwas anderes ergibt, kann man damit auch leben.“ Was ihr aber wichtig sei: „Ich habe da nie irgendetwas verheimlicht.“ Allerdings habe sie manche Dinge vielleicht nicht erzählt, weil sie nie danach gefragt wurde. Als Beispiel nennt sie ihre Mitgliedschaft beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund FDGB. Und dass sie in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft gewesen sei, tut sie an dieser Stelle dann auch gleich kund. Nun hat sie doch noch etwas Neues preisgegeben von sich. Im Übrigen, prophezeit sie, dass es, wenn es um DDR-Vergangenheit gehe, noch viele kontroverse Diskussionen geben werde und dies auch gut sei. Die Muschel aber, die sich gerade geöffnet hat, ist mit einem Mal wieder zugeschnappt. Aus den alten Erinnerungen wird sie sofort wieder in die politische Realität und die anstehende Wahlkampfzeit gestoßen. Angela Merkel ist jetzt wieder ganz Kanzlerin, die in ihren üblichen Duktus zurückfällt. Wahrscheinlich wird es künftig noch schwieriger werden, sie aus der Reserve zu locken.