Eigentlich wollte sie nur mal bei "TV Total" im Publikum sitzen. Aber als sie auf der Website der Late Night Show nach Zuschauerkarten suchte, wurde sie abgelenkt. Stefan Raab suche einen "Star für Oslo", las sie, einen Interpreten für den Eurovision Song Contest. Weil sie wissen wollte "wie ein Casting im Fernsehen so abläuft" bewarb sich die damals 18-jährige Schülerin aus Hannover.
Knapp dreieinhalb Jahre später sitzt sie in einem milchigen Glaskasten-Büro des Universal-Music-Gebäudes in Friedrichshain. Zwei Hände flechten ihre Haare, zwei andere schminken ihr Gesicht. "Hallo", höre ich mich kurz grüßen, dann fällt die Tür vor meiner Nase wieder zu. Der Mitarbeiter, der mich mit dem Aufzug nach oben gebracht hatte, wird angewiesen, mich mit dem Aufzug wieder nach unten zu bringen. "Lena ist noch nicht fertig", heißt es.
Von einer Gruppe Kleinkinder umringt, warte ich auf einem weißen Kunstledersofa in der Lobby des Musikkonzerns. Fünf, zehn, fünfzehn Minuten vergehen. "Wer ist alles vier?", ruft eines der Kinder. "Ich", schreien alle und toben dann wild vor Freude über ihr Alter auf dem Sitzmöbel herum. Nach weiteren 15 Minuten lässt die Energie der Kinder etwas nach, träge speicheln die Jungs der Gruppe das weiße Kunstleder ein. "Wir küssen die Cou-uch", skandieren sie stolz, und ich habe schon fast vergessen, warum ich eigentlich noch mal hier bin. Dann aber betritt sie die Lobby. Die junge Frau, die bei "TV Total" wahrscheinlich niemals einfach nur im Publikum sitzen wird.
Kurzer Ausflug in die Universität
Lena Meyer-Landrut war ein Kunststück gelungen. Mit ihr siegte Deutschland erstmals nach 28 Jahren wieder beim Eurovision Song Contest. "Lovely Lena ist das Glückskind Europas" titelte eine Tageszeitung. "Wunder von Oslo", "Lena-Rausch" und "Lena-Fieber" echote der ganze Blätterwald. Ihr erstes Album und der Siegersong "Satellite" besetzten die ersten Chartplatzierungen.
Lena trug sich in das goldene Buch ihrer Heimatstadt Hannover ein, ging auf europaweite Promotionstour und synchronisierte eine Schildkröte in einem Animationsfilm. 2011 entschied sie sich, ihren Song-Contest-Titel zu verteidigen. Für die Show "Unser Song für Deutschland" musste sie sich nicht bewerben. Hier trat sie mit zwölf verschiedenen Songs Abend für Abend gegen sich selbst an. "Übersättigung" rumorten die Medien. Der Song-Contest-Sieg ging an Aserbaidschan. Und Lena immatrikulierte sich an der Universität zu Köln, relaxte, dachte nach und exmatrikulierte sich wieder.
In Köln verliebt
"Sorry für die Verspätung", sagt die 21-Jährige. Ein langer, buschiger Fischgrätzopf schlängelt sich über ihre Schulter. Ihr drittes Album "Stardust" ist gerade mit Gold ausgezeichnet worden, mehr als 100.000 CDs hat sie seit Erscheinen im Oktober davon verkauft. In Berlin ist sie nun für zwei Tage auf Promotour. "Ich bin total gerne in Berlin", sagt das einstige "Wunder von Oslo" in ihrer grünen Barbourjacke, während wir in Richtung Oberbaumbrücke laufen.
Mit Lena ist man schnell im Gespräch. Keine Warmwerdephase. "Als ich das letzte Mal privat hier war, waren wir auf dem Mauerpark-Flohmarkt und alle haben sich einen Spaß daraus gemacht, dass ich bei dem Open-Air-Karaoke ,Satellite' singen soll." Hat sie es gemacht? " Neiiiin", sagt sie und verzieht das Gesicht.
"Nein, aber wirklich, ich gehe gerne durch Berlin spazieren, hier gibt es Sachen, die es in der Fülle nirgendwo sonst gibt. Straßenkunst, Ausstellungen, Theater", beginnt sie aufzuzählen. "Ich war hier auch mal im Russischen Staatsballett. Und einen Freund hatte ich hier auch mal. Aber ich hab mich trotzdem dagegen entschieden, hier zu wohnen." Kurz schnüffelt sie. Das "Glückskind Europas" hat Schnupfen. "Ich bin dann doch eher ein bisschen dörflich drauf. Berlin ist so groß. Und an Köln mag ich das Gefühl, die Stadt in- und auswendig zu kennen."
Großer Vintage-Fan
Sie wohne da auch in einem Kiez, sagt Lena: "In Köln sagt man aber Veedel." Sie wohne mit ihrem Freund zusammen, koche für Freunde, backe Brot, Muffins und Kekse für Freunde und gehe zum Krafttraining. "Clubs und Feiern ist nicht so meins", sagt sie, während wir den "Watergate"-Tanztempel an der Falckensteinstraße passieren. "Und ich bin jetzt auch nicht so ein Socialiser, der jeden Tag jemand anderen trifft. Ich habe wenige, aber sehr, sehr gute Freunde." Wie die damit umgehen, das Lena beruflich mit Reportern durch Kreuzberg läuft? "Meine beste Freundin kenne ich noch aus Hannover", sagt Lena, "die ist einfach eine coole Sau, da ist wirklich null Neid im Spiel, das sagt sie nicht nur, das habe ich auch gemerkt."
Eine andere gute Freundin habe sie erst kennen gelernt, als "alles los ging", und ihre dritte "mittlerweile fast beste Freundin" laufe auch beruflich mit Reportern durch Berlin. Wer das ist, mag Lena nicht sagen.
"Ach guck mal, das ist aber schön." In der Falckensteinstraße stoppt die Sängerin vor einem Ladenfenster, das ein Sideboard aus den 60er-Jahren zeigt. "Ich bin ein großer Vintage-Fan", sagt sie: "Aber ich mach jetzt erst einmal nur ein Foto. Ich kann das dann ja auch morgen noch kaufen" Lena holt ihr Smartphone aus der Tasche. Fotografiert ihren potenziellen neuen Fernsehtisch.
Ihre Managerin und ihre PR-Frau, die uns folgen, wirken ein wenig amüsiert. "Die müssen den dann schicken", sagt Lena, die schon einen Schritt weiter ist. Auch das nächste Geschäft verkauft Möbel. Das Secondhand-Holz stapelt sich raus bis auf den Bürgersteig: "Ohh, hier gibt es viele schöne Sachen. Können wir da rein gehen?", fragt sie. Klar. "Ich dreh durch", sagt die junge Frau fröhlich und tänzelt in ihren Turnschuhen auf den Eingang des Ladens zu.
„Das Geilste ist immer das nach Hause kommen“
Ein Verkäufer, der den Türrahmen füllt, versperrt ihr in den Weg. "Wir haben jetzt noch nicht auf. In 20 Minuten wiederkommen." - "In 20 Minuten bin ich nicht mehr hier." Der Verkäufer zuckt mit den Schultern. "Schade", sagt Lena. Manch ein Prominenter gleichen Alters hätte jetzt vielleicht eine Bierflasche geworfen, aber das "Wunder von Oslo" kehrt zurück an meine Seite, entschuldigt sich für irgendetwas und fragt: "Was war die letzte Frage?"
Solange sie in Bewegung sei, werde sie selten erkannt oder angesprochen, sagt Lena. Wo es aber immer schwierig sei, sei in der Bahn oder im Supermarkt. "Überall da, wo ich länger an einem Ort bin und die Leute Zeit haben, zu raffen, wer ich bin."
In ihrem Veedel in Köln kenne sie bereits jeder, da könne sie nun also auch relativ zügig einkaufen. "Mein schlimmstes Erlebnis hatte ich mal in Bochum. Ich bin da extra mit dem Auto hingefahren, um einen Kickertisch zu kaufen, aber da wurde dann alles richtig krass." Sie sei kaum aus dem Geschäft rausgekommen. "Wie in einem schlechten Teenie-Film!"
Wenn Lena nicht gerade im Ruhrgebiet nach Kickertischen sucht, komponiert sie Songs in Hamburg, trifft Helge Schneider bei einer TV-Show-Aufzeichnung in Wien oder sitzt in Los Angeles in der Sonne - über den Twitter-Account "Lenas_view" dokumentiert sie ihren Alltag als Popsängerin mit Handyfotos. "Ja, ich bin viel unterwegs", sagt sie. Manchmal für einen Tag, manchmal für eine Woche. Wenn ihre Mama in der Nähe sei, käme sie sie besuchen. Manchmal käme auch eine Freundin vorbei. Aber einzig ihre Managerin sei auf Reisen immer mit von der Partie. "Das Geilste daran ist eigentlich immer das nach Hause kommen."
Unplugged-Tour im April
Im April geht Lena auf Unplugged-Tour durch Deutschland. Ob sie auch Lust hätte international zu singen? Lust ja. Sie möchte ja viele Menschen mit ihrer Musik begeistern. "Aber um woanders Gas zu geben, müsste ich da erst einmal drei bis vier Wochen auf Promotour gehen. Und drei bis vier Wochen alleine und weit weg von Zuhause - das wäre eigentlich zu krass für mich."
Auch wenn sie die Menschen möge, mit denen sie zusammen arbeitete, abends sitze sie unterwegs trotzdem alleine im Hotel. Ihre neue Single "Neon (Lonley People)" handle vom "Allein unter vielen" sein, erzählt Lena. "Als ich während des ESC in Oslo war, waren vielen neue Leute um mich herum. Ich kannte keinen richtig, aber alle hatten eine Meinung und wollten was von mir. Klar hab ich mich da allein gefühlt", sagt sie.
Mittlerweile sei das aber nicht mehr der Fall: "Die Aussage des Songs ist auch, dass es eigentlich nur einen einzigen, ganz bestimmten Menschen braucht, dass man sich nicht mehr alleine fühlt." Im Görlitzer Park mustern uns die Drogendealer. "Ich war hier schon mal", stellt Lena fest: "Ich bin hier mit einer Freundin durchgelaufen. Wir wurden von so einem kleinem 15-Jährigen gefragt, ob wir Gras haben wollen." Sie macht eine Kunstpause: "Da kommt sein Freund von der Seite angerannt und sagt: ,Ey, nein, Mann, das sind Sportler.'" Sie lacht.
"Hier gibt es auch so einen Streichelzoo. Da habe ich mal eine Maus aus einem Hasenstall gerettet." Bei Temperaturen nahe des Gefrierpunkts sind die Verschläge des Kinderbauernhofes an der Wiener Straße verschlossen. Lena rennt auf dicke, dreckige Schafe hinter einer Umzäunung zu. Sie versucht sie anzulocken, die Tiere aber haben kein Interesse. Als der Popstar schließlich für ein Foto auf ihrem Zaun posiert, haben sich alle Schafe am vom Lena am weitesten entferntesten Punkt ihrer Weide zurückgezogen. Kritisch behalten sie das "Wunder von Oslo" im Blick.
Ein Herz für Tiere
Lena wollte nie zwingend Sängerin werden. "Musikmachen ist nicht unbedingt meine Passion. Ich hab nicht schon mit vier Jahren Violine gespielt", sagt sie, während wir im Streichelzoo im Kreis laufen. "Für den Moment ist Musik machen aber super." Es freue sie auch "krass", dass es gerade so gut läuft. Einen Schauspiel-Agenten hat Lena auch. "Wenn ein tolles Angebot kommt, sag ich nicht nein." Häufig habe sie neue Ideen, entscheide sich um. Die einzige Vorliebe, die sich aber durch ihr Leben ziehe, seien Tiere, sagt die Frau, die kurz zuvor noch eine Abfuhr der Streichelzoo-Schafe einstecken musste. "Vielleicht mache ich ja mal eine Hundeschule auf, oder ich produzieren Bio-Milch..." Lenas Sprachfluss stoppt, als sie ein kleines Kind im roten Anorak auf einer Schaukel entdeckt.
"Oohhh", entfährt es ihr. Ob sie mal Kinder haben möchte? "Ja klar", sagt sie sofort, sie muss nicht nachdenken. Dieses Jahr will sie dann aber doch erst mal ein Instrument spielen lernen. "Gitarre. Dann kann ich auch mal selber komponieren." Das aktuelle Album hat sie mit verschiedenen Songwritern zusammen geschrieben. Die Plattenfirma habe die Treffen organisiert, sie habe Themenvorschläge gemacht - und dann habe man sich gemeinsam ans Texten gemacht.
Ein Jahr hat die Arbeit an dem Album gedauert. Manche Geschichten über die sie singe, seien ausgedacht, manche habe sie erlebt. "Krass, hier gibt es Pasta Tomate-Mozzarella für 3,99 Euro", kommentiert Lena einen Pizzeria-Aushang zurück in der Falckensteinstraße. Der Fotograf will noch ein Bild machen. Lena schlägt den Fotoautomaten an der Ecke Schlesische Straße vor. Den kennt sie schon. "Die Fotostreifen aus dem Video zu ,Touch A New Day' habe wir da drin gemacht."
„Sei mal natürlich“
Ihre Managerin verweist auf die Uhr. Die Sängerin soll gleich weiter, weitere Interviews warten, am Abend will der Kinderkanal mit ihr kochen. Mit offener Jacke posiert Lena noch eben schnell unter einem Straßenschild. Die Managerin sorgt sich um Lenas Gesundheit. Lena hingegen sagt: "Ich find's immer schwierig, Fotos zu machen, wenn ich nicht verkleidet bin." Verkleidet? "Ja, also wenn ich kein Bühnenkostüm anhabe oder auf dem roten Teppich in glamourösen Outfits rumlaufe, dann fällt mir das Posieren leichter. Aber: ,Sei mal ganz natürlich?'", wiederholt Lena typische Fotografen-Anweisungen: "Mach mal das, was du sonst auch immer machst? Was mache ich denn?" Die Managerin bestellt ein Taxi.
Trotzdem will Lena noch mal schnell in den Fotoautomaten. Ob sie sich später auch noch privat mit jemanden treffe? Sie schüttelt den Kopf. "Nach einem ganzen Tag nur über mich labern und gefilmt werden, brauche ich einfach ein bisschen Ruhe" Es blitzt hinter dem Vorhang. Dann hält das Taxi vor dem Automaten.
"Wir müssen!" Mit dem Fotostreifen in der Hand gibt es ein letztes Bild, schnelles Handschütteln, dann ist das "Glückskind Europas" plötzlich weg. Autos hupen. Ein älterer Mann trägt eine Lidl-Tüte an mir vorbei. Zum nächsten Eurovision Song Contest fährt die deutsche Dancefloor-Gruppe "Casacada".