Zum 8. Mal stellt das Festival Achtung Berlin neue deutsche Filme aus der Metropole vor.
Rat mal, wer zum Kaffee kommt! Ruth Bickelhaupt hatte keine Ahnung, wen ihr Enkel da mitbrachte. Vor allem nicht, was sie mit ihr vorhatten. Axel Ranisch wollte einen Film drehen, und die Oma sollte dabei eine Hauptrolle spielen. Ein Leinwanddebüt mit 89! Weil es aber Improvisationskino werden sollte, durfte sie keineswegs erfahren, was auf sie zukam. „Dicke Mädchen“ ist in jeder Hinsicht eine Herausforderung für, eine Generalattacke auf die übliche Filmpraxis. Keine Fördergelder wurden beantragt, kein Drehbuch geschrieben, die Produktionsfirma einfach selbst gegründet. Der Etat betrug sagenhafte 517,23 Euro. Das ist kein Druckfehler. Das sind die reinen Materialkosten, der Rest war Selbstausbeutung. Zehn Tage standen drei Leute vor der Kamera, einer, Ranisch, übernahm alle Funktionen dahinter. Nebendarsteller, Transport, Catering, all das bestritten Familienmitglieder. Kein Low-, ein No-Budget-Film.
„Dicke Mädchen“ handelt von einer demenzkranken Frau. Da würden hiesige Produzenten schon mal abwinken. Er handelt auch von dicken Männern. Da würden sie gleich noch mal abwinken. Der eine, der Sohn der Dementen, teilt mit ihr die Wohnung, ja selbst das Bett. Der andere ist ihr Pfleger, in den der Sohn sich verliebt. Und man ahnt, worauf das hinausläuft: Irgendwann liegen alle drei zusammen im Bett. Die Produzenten würden vor lauter Abwinken eine Sehnscheidenentzündung bekommen.
Die Stadt hat eine eigene Stilistik
Aber Axel Ranisch und Heiko Pinkowski, einer seiner schwergewichtigen Darsteller, haben den Film ja selbst finanziert. Und wahres Guerilla-Kino kreiert. Man übt sich dabei nicht in falscher Bescheidenheit. Ihre Firma tauften sie selbstbewusst Sehr gute Filme, und auf deren Website stilisieren sie ihre ungewöhnliche Praxis zu einem Manifest, ein, natürlich, Sehr gutes Manifest. „Ein sehr guter Film hängt nicht vom Budget ab. Er entsteht in Freiheit, selbstbestimmt und unabhängig“, heißt es da. „Sehr gute Filme sind die Bio-Produkte der deutschen Filmlandschaft.“ Vorerst gibt es nur diesen einen Sehr guten Film. Aber weitere sollen folgen – und Nachfolger finden.
Eine erste Plattform bietet ihnen nun Achtung Berlin, das am Mittwoch eröffnet wird. Das Filmfestival ist mittlerweile das drittgrößte in der Stadt, nach der Berlinale und dem Interfilm. Vor acht Jahren hat man noch mit 3000 Zuschauern begonnen, im vergangenen Jahr waren es schon 12.000. Tendenz steigend. Und während man anfangs – auch hier! – noch abgewunken hat, ein Festival ohne thematischen Schwerpunkt, das ginge nicht, ist längst bewiesen: Eine rein geographische Festlegung reicht völlig aus. Achtung Berlin zeigt Neues Deutsches Kino aus der Stadt und bietet eine unglaubliche Vielfalt. Hier lief Robert Thalheims „Netto“, der zahlreiche Preise gewann, oder Christian Klandts „Weltstadt“, der von hier aus um die Welt ging. Natürlich sind es vor allem Werke von Filmstudenten, die noch nicht so bekannt sind. Aber genau das macht den Reiz aus: eigene Entdeckungen zu machen.
Natürlich, sagt Hajo Schäfer, der das Festival mit Sebastian Brose ausrichtet, kristallisieren sich dabei Schwerpunkte heraus: Filme, die vom Erwachsenwerden handeln und vom Filmemachen, also vom unmittelbaren Lebenszusammenhang der Jungregisseure. Auch Filme, die von Migration handeln und prekären Lebensverhältnissen, wie sie sich vor allem in Metropolen widerspiegeln. Aber, diese These wagt Schäfer schon, „Berlin-Filme haben eine eigene Stilistik. Sie sind experimentell, benutzen auch Trash-Elemente. Das ist etwas, was man so in München oder Hamburg nicht findet.“
80 Filme sind es in diesem achten Jahr. Und einen Schwerpunkt bildet diesmal Mumblecore, eine Bewegung des US-Independent-Kino, das mit kleinsten Budgets bewusst gegen Hollywood anfilmt. Sehr gute Filme ist ein deutsches Äquivalent dafür, aber nicht das einzige. Und man belässt es nicht dabei, solch wagemutige Außenseiter-Produkte zu zeigen: Es gibt auch diverse Werkstattgespräche, wie man Filme ohne Förderung produziert, wie man mit Crowdfunding Gelder akquiriert oder mit Improvisation statt starrem Drehbuch arbeitet.
Ein Filmrausch, der ansteckt
Experimentell, das kann aber auch ganz anders aussehen. So kunstvoll und mainstreamkompatibel etwa wie Ivo Trajkovs „90 Minuten – Das Berlin-Projekt“, eine einzige, irrwitzige Verfolgungsjagd quer durch Berlin, vorbei an lauter bekannten Stätten, wobei der Film aussieht, als sei er in einer einzigen Einstellung gedreht worden, was rein geographisch unmöglich ist.
Am stärksten sind in diesem Jahr aber die Beiträge aus dem Dokumentarbereich. Titel wie „Die Vermittler“, der 35 Tage lang Mitarbeitern in Neuköllner und Marzahner Jobcentern über die Schulter guckt, oder „Werden sie Deutscher“, der zehn Monate lang Teilnehmer eines Integrationskurses an einer Volkshochschule in Mitte begleitet. Der reizvollste Beitrag dabei dürfte Lucian Busses „Berlinized – Sexy an Eis“ sein. Busse hat vor 20 Jahren die alternative Kunst- und Clubszene, die sich in der Anarchie nach dem Mauerfall entwickelte, festgehalten. Jetzt hat er all die alten Mitstreiter noch einmal getroffen, um über die Träume von einst zu sprechen, was davon übrig geblieben ist und ob sie heute noch so möglich wären.
Das Motto des Festivals lautet in diesem Jahr eigentlich „Mit Liebe gemacht“ (als ob es nicht immer so heißen könnte!). Aber „Berlinized“: das trifft es viel besser. Das klingt wie ein Rauschzustand, wie ein Stadt-, ein Film-, ein Stadtfilmfieber, das durchaus ansteckend ist. Und einen sogar – siehe „Dicke Mädchen“ – noch mit rüstigen 89 Jahren erwischen kann.