Biermann-Kritik

Günter Grass - erst klug, dann böse, heute verbiestert

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Wolf Biermann

Wolf Biermann versucht, Günter Grass zu verstehen. Doch für das Gedicht "Was gesagt werden muss" fehlt ihm jedes Verständnis.

Im hohen Himmel über dem Judenstaat Israel und also zugleich über den Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen hängt seit einiger Zeit die Gefahr einer Atombombe, deren Buchstabe „A“ Ahmadinedschad bedeutet. Diese Riesenbombe wird kein „Little Boy“ sein, so hieß die kleine Hiroshima-Bombe, sondern könnte das Problem mit einem einzigen Treffer beenden: Die Endlösung für den unlösbaren Nah-Ost-Konflikt.

Ich bin in diesen Tagen mit meiner Frau und der kleinen Tochter zu Besuch bei Freunden zum Pessachfest in Israel, die Juden feiern, wie jedes Jahr, ihre Flucht aus dem gemütlichen Elend der Sklaverei in Ägypten in die Katastrophen der Freiheit im Gelobten Land.

Viel wird in Israel geredet über die Gefahr einer iranischen Bombe, die Juden fürchten die immer wieder angedrohte Vernichtung des Staates Israel.

Und was passiert stattdessen? Aus Deutschland platzt eine unangenehme Neuigkeit ins Pessachfest: Eine grässliche deutsche Stinkbombe ist dort gefallen.

Grass, mein zerfreundeter Freund, hat also ein skandalträchtiges Gedicht gegen Israel und zu Gunsten von Ahmadinedschad geschrieben und veröffentlicht. Globale digitale Welt: Den genauen deutschen Text aus der Zeitung in München mailte mir nach Tel Aviv ein Freund aus New York.

Ich lese also das provokante Werk, dreimal

Und drei Worte fallen mir dazu ein: gut … weh … leid.

1. Der kluge Grass tat mir gut, als ich noch in Ostberlin lebte.

2. Der blöde Grass tat mir weh, als er das Wort Wiedervereinigung mit „i“ ohne „e“ schrieb.

3. Der verbiesterte Grass tut mir leid, seit er von allen guten Geistern verlassen ist.

Künstlicher Tabubruch

Deutschland und Israel sind gut vergleichbar, grad weil sie so grundverschieden sind und zugleich durch die Shoah aneinander gekettet. Das ist für mich eine Faustregel: Die Deutschen wollen seit dem zweiten Weltkrieg dies und das sein, aber niemals wieder Täter. Die Juden sind das und dies, aber eins wollen sie nach all dem nie wieder werden: bloß keine Opfer. Das gilt für Völker wie für den einzelnen Menschen, jeder hat eben seine gewachsenen Schiefheiten.

Dass Günter Grass als junger Mann in Hitlers Waffen-SS kämpfte, kann ein gebranntes Kind wie mich nicht groß erschüttern. Dass er mit dieser banalen Schande erst als Greis sich geoutet hat, kann ich gut verstehen. Dass er mit dieser Offenbarung lebensklug wartete bis nach seinem erwarteten Nobelpreis, ist für jeden, der die chronischen Gutmenschen in Schweden kennt, kein Wunder.

Wenn er nun den Staat der Juden, die einzige Demokratie im Nahen und Fernen Osten, mit der blutigen Diktatur im Iran gleichsetzt, dann sei das dem Romanschriftsteller nachgesehn als eine kapriziöse Volte in der Maulschlacht auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Das kommt vor: Wenn dem Künstler keine originellen Ideen mehr kommen, versucht mancher sich an einem künstlichen Tabubruch wie Grass. Ich verteidige sogar sein Recht auf die altbackenen Lügen aus Unwissenheit über Israel, ich verteidige ihn schweren Herzens im Namen der Meinungsfreiheit, von der wir alle leben. Wenn er sich in diesem kurzen Wutausbruch drei-vier mal damit brüstet, dass er ein tapferes Schneiderlein ist, weil er nun endlich das Maul aufmacht, dann kostet ihn das - nebbich - in der Demokratie – und zum Glück – gar nichts. Wenn er der Welt die banale Wahrheit sagt, dass der demokratische Staat Israel seit Jahrzehnten Atomwaffen hat, genau wie die USA und England und Frankreich, verrät er ein offenes Geheimnis.

Alle, mit denen ich hier in Israel spreche, sagen dasselbe: Ein Krieg gegen die iranischen Atomfabriken wäre nicht nur brandgefährlich, sondern auch zwecklos, weil ein solcher Militärschlag das Problem nicht löst, sondern nur verschiebt und auf Dauer sogar verschärft. Das sagen öffentlich auch die israelischen Romanschriftsteller Amos Oz und Meir Shalev und David Grossmann und der zornige alte Dichter Nathan Zach. Dass die Neonazis Grass jetzt ans Herz drücken, macht aus Grass noch keinen Nazi. Er war niemals, und wohl nicht einmal als junger SS-Mann 1944 ein Faschist. Und dass die iranische Propagandamaschine ihn feiert, macht aus Grass noch keine Moslemkarikatur mit der Bombe im Turban. Also ist alles nicht so wild, alles nicht so schlimm.

Eine Anmerkung denn aber doch - und das, lieber Grass, muss gesagt werden:

Eine Dichtung ist das nicht. Es ist eine beleidigende Aufschneiderei, dass Günter Grass seine stümperhafte Prosa am Ende auch noch zerstückelt hat, dass er uns seine Satzfetzen untereinander setzte und der Menschheit nun verkauft als freie Rhythmen, als reimlose Lyrik. Das ist eine literarische Todsünde.

Von Romanen verstehe ich wenig, zu wenig. Aber was ein Gedicht ist, das merke ich auch dann, wenn es in einer Manier geschrieben ist, die mir fremd ist oder mich sogar ärgert! Der Wutanfall von Grass aber ist kein Gedicht, sondern ein Gedacht, egal ob er falsch oder richtig, egal ob er tief oder flach gedacht hat.

Günter Grass war in seiner Jugend ein starker Romancier, aber ein Dichter wird er auch mit diesem späten Versuch nicht.

Nun werden alle über ihn herfallen, die Journalisten, weil sie Auflage schinden müssen, die Politiker, weil sie wiedergewählt werden wollen, seine Kollegen aus echtem Neid und echter Empörung. Sogar seine Bewunderer werden sich schaudernd von Grass abwenden. Und er wird sich rotzig verteidigen und trotzig einbunkern in seinen Nobelruhm.

Aber der schlimmsten Strafe entgeht Günter Grass nicht: Die Muse der Dichtung, die schöne Erato, krümmt sich vor Lachen und vor Schmerz über diesen dumpfbackigen Polit-Kitsch.