Morgenpost Online: Ist der Typ Carmen wirklich ein Männertraum?
Sebastian Baumgarten: Es mag viele geben, die von einer Carmen träumen, sich aber in der Realität von ihr, von ihrer Kraft, zurückziehen würden. Da geht es um Angst, aber gerade diese Angst macht den Reiz der Carmen aus. Allerdings glaube ich auch, dass nur ganz wenige Frauen die Kraft einer Carmen durchhalten können.
Morgenpost Online: Bizets Carmen lebt vom Verführerischen der Jugend, aber ordnet sich die Femme fatale von heute nicht in demografische Reifungsprozesse ein?
Sebastian Baumgarten: Bei dem Thema ist man mir zu schnell in den Klischees über Frauen und Männer unterwegs. Mich interessiert an der Oper vielmehr die Liebesbeziehung, die aus sozialen Gründen unmöglich wird. Ich kann an der Femme fatale nichts Mythisches mehr entdecken, ich sehe eher viel Hysterie und teilweise eine psychopathologische Überformung.
Morgenpost Online: Was wird dann Ihre Carmen sein?
Sebastian Baumgarten: Wir erzählen die Fallgeschichte des Mörders. In Prosper Merimees Novelle erzählt der zum Tode verurteilte Don Jose noch einmal seine Lebensgeschichte. Ich finde es bemerkenswert, dass Bizets Musik so überhaupt nichts Tiefenpsychologisches in sich trägt, sondern eher grelle Züge von Revue, Operette und darüber hinaus viel Expressionistisches hat. Nicht umsonst gibt es einen überzeichneten halbpornografischen Comic von Georges Pichard zu diesem Stück.
Morgenpost Online: Bei Bizet spielt die Oper in Sevilla um 1820.
Sebastian Baumgarten: Ja, aber Bizet kannte Spanien nicht. Er ist der Karl May der Oper. Aber er stellte sich das südliche Spanien ziemlich gut vor in der Überschneidung, Überlagerung von Religionen und Kulturen. Da fließt das Arabische, Islamische und Schwer-Katholische ineinander. Bei Opernproduktionen arbeitet man als Regisseur plötzlich mit Sängern aus Amerika, Finnland, Schweden, Serbien und aus Berlin. Man hat genau diese Mischung in der Arbeitssituation. Insofern ist Sevilla ein kulturübergreifender Sprengort. Wir siedeln das Stück im Jetzt an.
Morgenpost Online: Es gibt die Zigeunerin, einen Soldaten, den Stierkämpfer, die Stadtschöne. Wer ist Ihre Lieblingsfigur?
Sebastian Baumgarten: Die habe ich so nicht. Im Mittelpunkt steht das Liebespaar. Wobei er immer als der Loser-Soldat herüberkommt. Aber wir können aufgrund unserer charakterstarken Besetzung zeigen, warum diese Frau auch etwas an ihm findet. Weil er nicht nur nett und niedlich ist oder mal geholfen hat, im richtigen Moment.
Morgenpost Online: Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht. Jeder kennt die schrille Umtextung, ist die Oper nicht längst mit Bildern und Subkontexten überschüttet?
Sebastian Baumgarten: Die Subkontexte darf man nicht ausklammern. Es ist eine beliebte Werbemusik, in tausend Trailern zu hören, es gibt viele Verfilmungen, jede Zeit hat ihre Carmen filmisch erstellt. Es ist ein zugeladenes Bild. Da kann man als Regisseur nur mit Opulenz draufgehen, damit sich die Bilder wieder auflösen. Man muss gewissermaßen die Oberfläche mit neuen Oberflächen bekämpfen.
Morgenpost Online: Bei den Bayreuther Festspielen haben Sie für Ihren „Tannhäuser“ in diesem Sommer viel Kritik einstecken müssen.
Sebastian Baumgarten: Aber nicht nur. Und im ersten Jahr ist das in Bayreuth doch immer so. Wie heißt es: Die Wölfe heulen - die Karawane zieht weiter. Wir haben im Sommer, wie soll ich sagen, komplizierte Arbeitsbedingungen gehabt. Ich wollte zumindest meine grobe Struktur setzen. Jetzt im Oktober hatten wir Abgabe für die Änderungen, die wir im nächsten Jahr machen wollen. Wir wissen doch, dass einige Dinge noch nicht fertig sind.
Morgenpost Online: Werden Sie an der düsteren Aussage Ihrer Inszenierung etwas ändern?
Sebastian Baumgarten: Ich liege nicht falsch. Es kann sein, dass sich das Ganze in der Formelhaftigkeit, dem Gegensatzpaar Apollinisch-Dionysisch, etwas zu wenig in die Irrationalität bewegt hat. In einer Kritik stand, die Inszenierung sei unerklärlich. Ein guter Freund sagt, sie sei übererklärt. Aber immerhin haben wir einige wesentliche ideologische Sakrilegbrüche vollzogen. Und das war gar nicht so leicht.
Morgenpost Online: Aber die Festspielleiterinnen Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier wollen doch Neues wagen?
Sebastian Baumgarten: Eigentlich offenbart Bayreuth etwas, was ich gegenwärtig am ganzen Theater- und Opernbetrieb feststellen kann: Die ganze Apparatur kann sich nicht entscheiden, ob sie das Regietheater will oder lieber mit konventionellen Dingen viele Plätze verkaufen will. Wer etwas radikal machen will, muss das konsequent tun können, ansonsten kann er nicht überzeugen. Die ständige Vorsicht an den Häusern, das Lavieren ist zermürbend. Schließlich haben auch Regisseure ihre Zweifel, ihre Schwächemomente.
Morgenpost Online: „Carmen“ ist Ihre vierte Inszenierung an der Komischen Oper...
Sebastian Baumgarten: Und vorläufig meine letzte. Ich arbeite sehr gern an dem Haus, aber jetzt endet die Intendanz von Andreas Homoki. Ich werde bei ihm in Zürich arbeiten. Darüber hinaus in Stuttgart oder Dresden. Berlin hat in den letzten Jahren viel von seiner Mentalität verloren. Man sollte Berlin inzwischen besser Stuttburg nennen. Das flapsige Proletenhafte wird durch eine neue Korrektheit abgelöst, seitdem sich die Mietskasernen in Eigentumswohnungen verwandeln. Das geht auch nicht am Theater spurlos vorbei, und es ist kein Wunder, dass sich viele Künstler wieder von Berlin abwenden.
Morgenpost Online: Bayreuth hat sich noch nicht gegen das Regietheater entschieden, sondern Volksbühnenchef Frank Castorf für den großen „Ring“ im Jubiläumsjahr 2013 verpflichtet. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?
Sebastian Baumgarten: Habe ich. Schließlich ist die Arbeitssituation in Bayreuth schon eine besondere. Er hat mit Kirill Petrenko einen Dirigenten, auf den er sich freuen kann. Und Frank Castorf kennt die „Nibelungen“ in- und auswendig. Jetzt hört man, dass er doch nur mit Fremdtexten seine Inszenierungen umsetzen kann. Aber das ist eine falsche Beschreibung seiner Arbeitsweise, ich denke, er kann die Partitur sehr wohl mit starken Bildern umsetzen. Ich habe mir sehr gewünscht, dass er den „Ring“ macht.
Komische Oper zeigt Carmen
Der Regisseur: Sebastian Baumgarten wurde 1969 in Berlin geboren. Nach dem Regiestudium an „Eisler“-Musikhochschule assistierte er u.a. Ruth Berghaus und Robert Wilson. Ab 1999 war er Oberspielleiter in Kassel, ab 2003 Chefregisseur am Meininger Theater. Bei den Bayreuther Festspielen debütierte er im Sommer mit Wagners „Tannhäuser“. Die Inszenierung ist umstritten. An der Komischen Oper ist „Carmen“ seine vierte (und zunächst letzte) Regie – nach Händels „Orest“, was ihm die Ehrung „Regisseur des Jahres“ einbrachte, Mozarts „Requiem“ und „Im weißen Rössl“.
Die Oper: Bizets „Carmen“ wird an der Komischen Oper aus dem Sevilla um 1820 ins Heute verlegt. Das Bühnenbild stammt von Thilo Reuther. Die musikalische Leitung hat Yordan Kamdzhalov, die Titelpartie singt Stella Doufexis. Termine: 27.11. (Premiere), 6., 12., 18., 26., 29.12. Tel:47997400