Foto-Schau

Ausstellung zeigt die andere Seite der Mauer

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Matthias Wulff

Foto: BArch, DVH 60 Bild-GR35-01-045 bis 051.jpg

Eine Foto-Schau über die Berliner Grenze, die überrascht. Denn diesmal wird der Blick einmal von Ost nach West geworfen. So lässt sich kurz vor dem 50. Jahrestag des Mauerbaus tatsächlich noch etwas Neues erfahren. Und der Besucher wird merken: Man hat noch nicht alles gesehen.

„Keine Kohlen im Keller, keine Eier im Sack, das ist euer 20. Jahrestag“, rief Mitte der sechziger Jahre ein West-Berliner, ausgestattet mit einem Megaphon, nach drüben. Protokolliert wurde diese kleine Lyrik durch die Grenztruppen der DDR, wie sie ohnehin alles notierten, was an Feindbewegungen auszumachen war. Da kam einiges zusammen: Beliebt war bei jüngeren West-Frauen – es waren erstaunlich viele – die DDR-Grenzer gewaltfrei zu quälen, indem sie sich ans Fenster stellten und das Oberteil freimachten. „Die Jugendliche hat ihren Oberkörper entblößt, aus einem Kofferradio kommt laute Musik. 9.20 Uhr zieht sie einen Pullover über“, schreibt einer über ein Mädchen aus Neukölln. Zudem hielten die Soldaten fest, wenn Apfelsinen oder Zigaretten rübergeworfen wurden, oder wenn die DDR als KZ beschimpft wurde.

Negative in einer Pappkiste

Zu sehen und zu lesen ist das alles in der Ausstellung „Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer“. Am Freitag wird sie Unter den Linden 40 in Berlin-Mitte (Ausstellungsräume im 2. OG) eröffnet, in der der, sehr ungewohnte, Blick von Ost nach West geworfen wird. Es sind Bilder aus dem Jahr 1966. Von Treptow bis Pankow hatten die Grenztruppen fein säuberlich die 43,7 Kilometer lange Berliner Mauer abfotografiert, 1995 fanden Schriftstellerin Annett Gröschner und Fotograph Arwed Messmer sie zufällig bei Recherchen für ein anderes Projekt im Militärischen Zwischenarchiv in Potsdam. In einer Pappkiste waren die Negative gelagert, die sich heute, entwickelt zu Panoramabildern, als ein echter Schatz erweisen.

Ehrlich gesagt hätte man nicht erwartet, kurz vor dem 50. Jahrestag noch irgendetwas grundsätzlich Neues über die Mauer zu erfahren. Aber das war falsch. Denn die Veränderung des Blickwinkels widerspricht allen Seherfahrungen. Denn egal ob man im Osten oder Westen aufgewachsen ist, sind die gespeicherten Bilder, die man von der Mauer hat, immer die vielfotografierte Westperspektive gewesen. So ertappt man sich dann auch mehr als einmal dabei instinktiv nach dem Osten Ausschau zu halten. Da ist aber nichts.

Blick auf den "maroden" Westen

Außer der Westen. Überraschend ist: Egal, ob man die Invalidenstraße in Moabit oder die Dresdner Straße in Kreuzberg oder die Bouchéstraße in Neukölln betrachtet, es sah alles ziemlich heruntergekommen – „marode“ hätte man gesagt, wenn es um den Osten ginge – aus, an manchen Stellen, als ob der Krieg gerade eben vorüber sei. Die Altbauten waren noch nicht saniert, die neuen Wohnungen sahen so aus, wie sozialer Wohnungsbau nun einmal aussieht. Kurzum, wer geflohen ist, der floh nicht, weil der Blick über die Mauer Verheißungsvolles versprach.

Verblüffend auch: Das Bild, das man von der Mauer hat, das Bild von der monolithischen, grauen Betonwand, stimmt so nicht – zumindest war es nicht so Mitte der sechziger Jahre. Es wurden alle Materialen genutzt, mit denen man absperren kann: Stacheldraht, Hundelaufanlagen, Drahtzäune, auch die Fassaden leerstehender Häuser wurden zu einer Grenze umgewandelt. „Wenn man davor stand, müssen einige gedacht haben, das muss doch möglich sein, rüberzukommen“, sagt Annett Gröschner, „auch deswegen sind in den Anfangsjahren bei den Fluchtversuchen viele Menschen gestorben.“

Nachzulesen sind in einem kleinen Raum in drei Ordnern Geschichten über die Flucht. Jeden einzelnen Versuch hielt man in der DDR mit einer Zeichnung – die Bewegung der Soldaten und die Bewegung des Flüchtenden auf einem Stadtplan – und einem Bericht fest. So wurde die Mauer Stück für Stück undurchlässiger; jede geglückte Flucht führte dazu, die Grenzanlagen „sicherer“ zu machen. Dokumentiert ist in diesen Ordnern auch einer der wenigen Schusswechsel zwischen NVA-Offizieren und West-Berliner Polizisten plus amerikanischer Soldaten. Ein junger Mann wollte fliehen, wurde immer wieder niedergeschossen und richtete sich immer wieder auf. Es muss ein fürchterliches Schauspiel gewesen sein. Irgendwann gab die Westseite dann Feuerschutz – rund 80 Schüsse fielen auf beiden Seiten und es ist schon ein Wunder, dass keiner (bis auf den Flüchtenden, der schwerverletzt die Mauer überwinden konnte) verwundet wurde.

Wie man sich erinnern kann

So reiht sich Geschichte an Geschichte; den einzelnen Bildern hat Annett Gröschner ein, zwei Sätzen hinzugefügt, welche Grenzverletzung die DDR an ihrem antifaschistischen Schutzwall da wieder erdulden musste. Die Touristen, so sagt sie, scheinen den ganzen Tag auf der Suche nach den Überbleibseln der Mauer zu sein. Ihnen zuliebe die Mauer wieder errichten, wolle man ja nun doch nicht und so „kann man sich ihrer nur über Geschichten erinnern“. So erwartet sie, dass viele Touristen die Ausstellung besuchen, aber auch ältere Berliner werden wohl kommen. Den Nachgeborenen die Mauer zu erklären – vor allem, wie es kommen konnte dass man sie irgendwann für selbstverständlich genommen hat – ist naturgemäß schwerer. Annett Gröschner erinnert sich daran, wie sie ihrem sechsjährigen Sohn 1995 versuchte, die Mauer zu erklären. Doch der verstand das Problem nicht richtig: „Warum habt ihr“, fragte er „nicht einfach Räuberleiter gemacht?“

Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer. 5. August bis 3. Oktober 2011. Ausstellungsräume Unter den Linden 40, 2. Etage, täglich 10 bis 20 Uhr. Karten erhältlich an der Kasse: 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Das gleichnamige Buch von Annett Gröschner und Arwed Messmer bei HatjeCantz (762 Seiten, 49,80 Euro).