Man kann es Nacht für Nacht im öffentlichen Nahverkehr bestaunen: Vom Berlinbesuch erhitzte Schulmädchen stimmen gemeinsam Songs an, die sie mögen aber unmöglich verstehen können. Schauriges von Rammstein singen sie und von Metallica, mit bebenden Stimmen und mit Fruchtbierflaschen in den Händen. Bereits 1996, in der belgischen Stadt Aarschot, luden die Gebrüder Stijn und Steven Kolacny interessierte Mädchen ein zum Vorsingen, um einen Chor zu gründen. „Scala on the Rocks“ erschien, eine CD mit irritierenden Versionen von Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ und „Life On Mars“ von David Bowie. Scala wurde zum berühmtesten Gesangsverein der Welt, mit immer neuen Mädchen.
35 jungen Frauen schreiten ernst über den Kies der Spandauer Zitadelle. Sie sind schwarz gekleidet aber individuell in Röcken oder Hosen, und so wird zugleich der Weg vom Kammerchor zur dunklen Popmusik durchmessen. Auf der Bühne angekommen, hauchen sie in ihre Kehlkopfmikrofone „Beautiful People“ von Marilyn Manson und dann „When Doves Cry“ von Prince. Ein Hasslied auf die Menschheit und ein Schmähgesang gegen die Eltern. Auf den Bänken vor der Bühne wiegen sich Familien im Takt. Steven Kolacny dirigiert den Chor, ein kahler, dünner Mann, der sich vor seinen Sängerinnen windet wie ein Ausdruckstänzer, während sich sein Bruder Stijn am Flügel in die Tasten gräbt.
Man denkt ein letztes Mal mit Schrecken an die aufgeschlossenen Musiklehrer vor 30 Jahren, als die Rockmusik noch jünger war. Als Schüler plötzlich „Problem Child“ von AC/DC singen sollten, alles über Sinn und Form des Werks erfuhren, und sich anschließend von ihren AC/DC-Platten trennten. Heute ist es schwerer, solche Lieder zu entweihen. „Creep“ von Radiohead ist ein moderner Klassiker über die jugendliche Ohnmacht. Mit der Scala-Fassung warb bereits der Film „The Social Network“, der von Facebook und den Hoffnungen der Jugend handelte. Nun schmettern es die blassen Belgierinnen in den Abendhimmel über Spandau, in das Dröhnen einer Passagiermaschine. Als Gesang gegen den Fluglärm, für und gegen alles, irgendwie.
Man kann aber auch wieder hören, was die Songs im Lauf der Zeit verloren haben. Manu Chaos „Clandestino“ prangert vielleicht nicht mehr an, wie reiche Länder mit Migranten umgehen. Doch in den Stimmen schwirrt ein Unbehagen, das im Englischen nicht zufällig als „Teenage Angst“ bekannt ist. Es bedrückt einen, wenn Scala „Junimond“ von Rio Reiser vortragen, den schwulen Sehnsuchtsschlager.
„Mein hungriges Herz durchfährt ein bittersüßer Schmerz“, erklären sie wie Sternsänger im Sommer. Und was albern wirkte, wenn es Mia als Berliner Neo-NDW-Gruppe gequält dahinsang, kommt plötzlich aus einem kollektiven, wunden Herz. Das hatte sogar die Berliner Bankgenossenschaft verstanden, die mit dieser Fassung ihre Fernsehwerbung unterlegte. Am Klavier spielt Stijn Kolacny anschließend die Deutsche Nationalhymne zwischen Triumph- und Trauermarsch. Der Chor stimmt ein mit „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten, wo es nicht mehr darum geht, weshalb aus unverstandenen jungen Männern handgreifliche Nazis werden. Es geht darum, unschuldigen Mädchen dabei zuzuhören, wie sie „Arschloch!“ rufen, weil der Kehrreim es verlangt.