Auguststrasse

Berliner Ausstellung hinterfragt Kannibalismus

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Gabriela Walde

Hier darf sich gruselt werden: Eine Ausstellung in Berlin beschäftigt sich anschaulich mit der modernen Menschenfresserei. Seit dem Kannibalen von Rotenburg ein Thema mit besonderer Aktualität.

Ein ungewöhnlicher roter Teppich führt in die Ausstellung. Über ausgelegte Salamischeiben auf PVC begibt sich der Besucher unter die Kannibalen. Kurios, aber von weitem sieht das Muster aus wie christliche Ikonografie auf Kirchenböden. Wie man will, ein böser oder ironischer Verweis auf die ewige Fleischeslust in uns allen.

Und auch Norbert Biskys „Sündenbock“ versöhnt uns nicht gerade. Der Blondschopf stopft sich ein Menschenbein wie einen Hähnchenschenkel in den Mund, in der linken Hand hält er lauter schöne Jünglinge. Bei US-Malerin Dana Schutz, geboren 1976, essen sich die „Self Eaters“ selbst auf: glotzende, farblodernde Gesichter mampfen unersättlich Körperteile in sich hinein, um sich zu reproduzieren, und gleich wieder zu zerstören. Mit dieser Bilderserie aus dem Jahr 2003 wurde sie bekannt.

Die Ausstellung bei "me Collectors Room" mit dem Titel „Alles Kannibalen“ spielt mit der latenten Aktualität des Themas, und nicht nur, weil der Kannibale von Rotenburg es zum Grauen erregenden Medienstar und zu einem Film brachte, der im Internet sein Fanpublikum fand.

Menschenfresserei als zentrales Thema

Menschenfresserei war auch das zentrale Thema der 24. Biennale von Sao Paulo. Wie stark der Kannibalismus , auch Anthropophagie genannt, Kulturgeschichte geschrieben hat, sich in Kunst, Film, Literatur, Mythos, Religion und Reiseliteratur widerspiegelt, beschreibt Christian W. Thomsen in seinem als Standartwerk geltenden Buch „Menschenfresser“, das knapp 30 Jahre alt ist. Bemerkenswert ist, dass sich das Phänomen wie ein roter Faden durch alle Zeiten, Länder und Kulturen hindurch zieht.

Die Liste der Verweise ist lang, reicht von Goethe, Shakespeare bis hin zu Märchen wie „Der kleine Däumling“, das die Angst vor dem Gefressenwerden beschreibt. Unzählige Filme wie Greenaways „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“, die schwarze Komödie „Eat The Rich“ oder „Der Totmacher“ mit Götz George beschäftigen sich mit Spielarten des „Auffressens“.

Sogar in unseren Sprachschatz hat sich das Motiv eingeschlichen bei Sprichwortes oder Alltagswendungen wie „Rache ist Blutwurst“ oder „ich werde von der Arbeit aufgefressen“. Der Begriff „Kannibalen“ etablierte sich im 15. Jahrhundert als Bezeichnung für „wilde“, menschenverzehrende Eingeborene in den neu entdeckten Ländern.

Virtuelle Körperfantasien verwandeln sich

Seit dem Kannibalen von Rotenburg, so schreibt Thomsen in seinem aktualisierten Vorwort, habe das alte Thema eine neue Dimension erhalten – durch das Internet. In Foren wurde dafür geworben, die virtuellen Körperfantasien in „reale Schlachtorgien zu verwandeln“.

Mit viel Theorie und jeder Menge Klischees hatte Kuratorin Jeanette Zwingenberger also zu kämpfen, um diese Ausstellung auf die Beine zu stellen. Schrumpfköpfe oder Riesenkochtöpfe auf dem Feuer – solche simplen Typisierung vom „wilden Kannibalen“ bedient sie nicht.

Ihr Ausstellungstitel bezieht sich auf einen Aufsatz des französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss von Anfang der 1990er Jahre. Seine steile These: „Wir sind alle Kannibalen. Das einfachste Mittel sich mit dem Anderen zu identifizieren, ist noch ihn zu essen.“ Für ihn sind selbst Organtransplantation und Blutwäsche eine Kannibalisierung des Nächsten.

Die Ängste des Verschlungenwerdens

Dementsprechend geht die in Paris lebende Kuratorin von einem erweiterten Begriff des Kannibalismus aus. Sie setzt auf biologische, kultisch-religiöse und gesellschaftspolitische Akzente, ohne natürlich die historischen Bezüge wie ethnologische Reiseliteratur oder Kultobjekte zu vernachlässigen.

Dabei wählt sie für ihre Präsentation im Wesentlichen Gegenwartskünstler, die sich in den letzten zehn Jahren mit dem Motiv auseinandergesetzt haben. Moderner Kannibalismus, – der bedeutet für Zwingenberger zu allererst einen Tabubruch, der Gewalt, Ängste des Verschlungenwerdens und Brutalität einbezieht sowie übergreifend die „Vernichtung unseres eigenen Lebensraumes durch Überproduktion“.

Harter Tobak. In den Bildern, Videos, Zeichnungen und Installationen wird heftig zerstückelt, geschnitten, gelöffelt und ausgequetscht.

Kannibalismus am eigenen Körper

Kannibalismus fängt bereits mit dem eigenen Körper an, mit der Einverleibung von Nahrung und Ausscheidung. John Issaks lebensgroßer Kartoffelmann steht für diesen Anfang im Verlauf der (degenerierten) Nahrungskette. Wie also steht man zur eigenen Fleischlichkeit? Zur Mütterlichkeit?

Ist das Stillen eines Kindes nicht auch eine positive Form des Kannibalismus, ganz im Sinne der oralen Phase Freuds ? Die Foto-Künstlerinnen Bettina Rheims und Cindy Sherman zeigen im „Frauenraum“ die milchgebenden Evas als Heilige und Huren zugleich.

Anorexie, die Magersucht , ist für Zwingenberger Auto-Kannibalismus, eine neuzeitliche Form der Selbstzerstörung. Da hinein passt auch Patty Chang, Jahrgang 1972, aus den USA. In ihrem Video zeigt sie, wie sie ihre Brust wie eine Melone mit einem Messer aufschneidet, um sie anschließend „auszulöffeln“. „Friss mich“, dieses Sprichwort überträgt der japanische Künstler Aida Makoto direkt in seine Zeichnungen, dort werden Barbie-artig geklonte Mädchen in Sushi zerlegt. Die coole Konsumwelt frisst ihre eigenen Kinder.

Facettenreiche Schau ist rundum gelungen

Zwingenberger geht so weit, dass sie einen künstlerischen Kannibalismus ausmacht: „Künstler eignen sich die Ideen von Kollegen an“. Dazu zählen beispielsweise die britischen Chapmans Brothers, sie verleiben sich Goyas furioses grausames Welttheater, die Stiche „Schrecken des Krieges“ ein, um sie zu übermalen, damit zu zerstören, gleichzeitig aber wieder neu für die Gegenwart zu generieren.

Diese facettenreiche Schau ist rundum gelungen, sie hat durchaus Museumsreife. Freilich setzt sie auf einige Effekte, wie den in einer Vitrine präsentierten und verbundenen Riesenphallus von Eric Dietman. Doch das arme Ding bringt das Thema wirklich nicht nach vorne, es passt irgendwie in fast jede Ausstellung.

Insgesamt aber hält die Schau wunderbar die Balance zwischen wissenschaftlichem Anspruch und populärem Zugriff. Im Pariser Ausstellungshaus la maison rouge zog sie immerhin 25.000 Besucher an. Sie hat auch in Berlin das Zeug zu einem Publikumsmagneten.

Alles Kannibalen? me Collectors Room, Auguststraße 68, Berlin. 29. Mai bis 21. August 2011, Di bis So, 12-18 Uhr. Eintritt: 6 Euro, erm. 4 Euro.