Diese „Super-Nanny“ braucht kein Make-up, ihr Kostüm, das ist eine abgewetzte Lederjacke. Würde man sie beim Beruferaten bitten, eine typische Bewegung zu machen, würde sie in die Knie gehen. Dieser Knicks ist mehr als nur eine symbolische Geste. Schließlich will sie ihren Schützlingen auf Augenhöhe begegnen. Es sind die Jungs und Mädels, die auf dem Boden hocken und schnorren.
Thomas Sonnenburg ist Streetworker – eine Art „Super-Nanny“ für Jugendliche, die dort gelandet sind, wo man eben landet, wenn man sich vorkommen muss wie ein Joghurtbecher, den das Duale System vergessen hat zu recyceln. Endstation Straße. Viele kennen den Berliner schon aus dem Fernsehen, aus der neuen RTL-Reality Soap „Die Ausreißer.“ Einen korpulenten, aber ungemein wendigen Glatzkopf, der den Eindruck erweckt, als könne er einiges „wuppen", wenn es sein muss, auch ein Klavier.
Thomas Sonnenburg springt ein, wenn Eltern ihre Kinder vermissen. Er versucht sie, von der Straße zu holen. Heute abend um 21.15 Uhr sucht er Giacomo, 16, aus Waiblingen. Er ist in die Punk-Szene gerutscht. Dem Streetworker schwant Schlimmes, als er ihn in einem Wald in Degerloch findet, wo Giacomo mit anderen Ausreißern campt, in einer der reichsten Gegenden Deutschlands. Er sagt: „Das glaubt uns der Zuschauer nie, dass RTL dieses Camp nicht aufgebaut hat. Das Klo war ein Donnerbalken.“
Schon bei der letzten Folge rieb man sich ungläubig die Augen: Es ging um Jenny aus dem thüringischen Suhl. Jenny ist 17 und trinkt Schnaps, drei Flaschen pro Tag. Man sah, wie sie sich an jede Flasche klammerte. Und man erlebte den Streetworker, der seelenruhig an das blasse Mädchen appellierte: „Du zerstörst dich in einer Geschwindigkeit, die ich nicht tolerieren kann.“
Neue Reality-Soap nach DSDS hat Erfolg
RTL zeigt die Reality-Soap jeden Mitttwochabend, nach „Deutschland sucht den Superstar (DSDS). Bislang sind erst zwei Folgen gelaufen, doch schon jetzt gelten die „Ausreißer“ als Überraschungserfolg des Jahres. Beinahe fünf Millionen Zuschauer sahen die letzte Folge, ihr Marktanteil war mit 27,5 Prozent beinahe genauso so hoch wie der von DSDS. Dabei sind die „Ausreißer“ das Kontrastprogramm zum „Ringelpietz mit Bohlen“.
Man könnte auf die Idee kommen, Thomas Sonnenburg sei angetreten, die letzte Lücke in der Verwertungskette von RTL zu schließen. Er trete auf den Plan, nachdem es die „Super-Nanny“ nicht geschafft hat, den Nachwuchs wieder auf die Spur zu bringen und am Ende auch Papa Bohlen die letzte Hoffnung auf berufliche Rehabilitation zunichte gemacht hat.
Doch wenn RTL eine solche Rechnung jemals aufgestellt haben sollte, ist sie nicht aufgegangen. Irgendwie hat es der 44-Jährige Streetworker geschafft, mit den „Ausreißern“ ein Format zu etablieren, das sich einer TV-gerechten Inszenierung weitgehend entzieht und das vermutlich gerade deshalb so erfolgreich ist.
„Na ja“, sagt er, während er breitbeinig im Sessel eines stilvoll versifften Café in Berlin-Friedrichshain sitzt und an seiner Bionade nippt, „es ist schon ein großer Spagat zwischen Fernsehen und Sozialarbeit –also zwischen dem, was ich will, und dem, was der Sender will.“ Sonnenburg sagt, er wolle keine „Drecksbilder“ zeigen und die Ausreißer in ihrem Elend zur Schau stellen.
RTL fand das vieles gar nicht witzig
Er wolle den Jugendlichen helfen, sich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel zu ziehen. Sie fit machen für ihre Odyssee durch den Behördendschungel. Ihnen aber zugleich die Augen dafür öffnen, dass der Staat kein Selbstbedienungsladen ist. Es klingt nach dem Versuch, den Pudding an die Wand zu nageln.
Offenbar hat er nicht geahnt, worauf er sich da eingelassen hat, als ihn RTL unter Dutzenden Bewerbern castete – weil er so „authentisch“ sei, wie es bei der Berliner Produktionsfirma Imago TV heißt. Jedenfalls bemüht er sich heute, die hohen Erwartungen zu dämpfen. „Du kannst von den Jugendlichen nicht erwarten, dass sie den Schulabschluss nachholen. Manchmal ist es schon ein Erfolg, wenn sie sich nach Monaten wieder bei ihren Eltern melden.“
Es kostet nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass so einer die Nerven von RTL arg strapaziert. Da ist er also als TV-Streetworker in der privilegierten Lage, dass er sich für jeden Fall monatelang Zeit nehmen kann. Dass er verschnarchten Sachbearbeitern in den Behörden Beine machen kann, wenn er nur beiläufig den Namen seines Arbeitgebers erwähnt: „Ich bin der Schrecken der Jugendämter.“
Es sind also paradiesische Arbeitsbedingungen für einen, der sich seit 14 Jahren für den Berliner Verein Gangway als Streetworker die Hacken abgelaufen hat. Und dennoch kann er dem Fernsehen nicht geben, was RTL gerne hätte. Bilder von jungen „Pennern“, die sich praktisch über Nacht in ehrgeizige Pennäler verwandeln.
Er sagt, anfangs sei es ein Kampf gewesen, dem Kamera-Team klarzumachen, dass der Alltag der Ausreißer einer eigenen Dramaturgie gehorche. Dass es zum Beispiel der Respekt verbiete, einfach durch eine offene Tür in eine vor Dreck starrende Wohnung zu marschieren, um einen Punk aus seinem selbstgewählten Asyl zu befreien. Eine überaus engagierte Kollegin, mit der er sich den Job ursprünglich teilen sollte, warf entnervt das Handtuch.
Sonnenburg blieb hartnäckig – und setzte sich durch. Es war das erste Mal, dass der Autor das Drehbuch umschreiben musste. „Thomas zeigt Respekt und wartet vor der Tür“, wird der Sprecher später sagen. Eins zu null für den TV-Streetworker.
Es ist kein Job für weltfremde Gutmenschen. Er erfordert Durchsetzungsvermögen und Fingerspitzengefühl. Sonnenburg sieht das ganz nüchtern: „So ein Fall lässt nicht in 45 Minuten lösen.“
Siehe Jenny. Die Folge endete damit, dass die 17-jährige Thüringerin abtauchte, nachdem sie Sonnenburg gedrängt hatte, einen Entzug zu machen. Befriedigend war das nicht, weder für den diplomierten Sozialpädagogen noch für den Sender.
Sonnenburg besteht auf Nachbetreuung
Und so zog der „Thommi“, wie sich der geschiedene Vater eines 16-jährigen Sohnes selber nennt, noch einmal durch Berlin, um Jenny zu suchen. Genug Material für eine zweite Folge hat das Team inzwischen im Kasten, nicht ohne Stolz sagt Sonnenburg, dass er den Sender dafür sensibilisiert habe, dass es nicht reiche, die Ausreißer von der Straße zu holen. Künftig will er nach Monaten noch einmal nachhaken.
Vermutlich hat RTL dabei die Quote vor Augen gehabt. Sonnenburg spricht lieber von Nachbetreuung. Dieses Format beweist, dass das eine das andere nicht ausschließen muss.
Jedenfalls hat er bislang noch fast alle Kandidaten davon überzeugt, dass seine Zukunft nicht auf der Straße liegt. Nur im Fall Jenny wird der Zuschauer auch in der zweiten Folge kein Happy End erleben. Jenny schafft zwar die Entgiftung, bricht die Therapie aber wieder ab. Bevor das Jugendamt ihre Finanzierung bewilligt hatte, war sie in ihr altes Leben zurückgekehrt.
Sonnenburg sagt, er spiele mit dem Gedanken, das zuständige Jugendamt zu verklagen. „Wenn es bei Jenny nicht Klick macht, ist sie vielleicht in drei Jahren tot.“ Es ist ein Satz, der klingt, als hätte ihn ein RTL-Autor getextet. Das wahre Leben, es führt Regie.
Die Ausreißer, heute, RTL, 21.15 Uhr.