Es war fast auf den Tag genau ein Jahr danach. Am 3. Dezember 2009 hatte Roman Polanski seinen elektronisch überwachten Hausarrest in seinem Chalet in Gstaad angetreten. Mit einer Fußfessel versehen, musste der Regisseur darauf warten, ob die Schweiz ihn nun an die amerikanischen Behörden ausliefern würde, was damals zu Protesten zahlreicher Künstler und Politiker führte. Ein Jahr und einen Tag danach, am 4. Dezember 2010, war Polanski der klare Gewinner beim Europäischen Filmpreis in Tallinn. Sieben Mal war sein Politthriller "Der Ghostwriter" nominiert, sechs Mal siegte er. Immer wieder musste Timothy Burrill, der britische Koproduzent, stellvertretend für Allen auf die Bühne kommen.
Polanski ist zwar seit Juli wieder auf freiem Fuß, wollte aber nicht in die estnische Hauptstadt reisen. Dafür war er den ganzen Abend über via Skype live zugeschaltet - und meinte selbst einmal, dies seien zu viele Preise. "Ich habe gegen einen Luftröhrenschnitt verloren", hat Shirley MacLaine einmal geklagt, als sie beim Oscar gegen Liz Taylor verlor - nicht weil deren Leistung so viel besser gewesen, sondern weil diese beinahe gestorben wäre. Ich habe gegen eine Fußfessel verloren, hätten nun all die anderen Nominierten sagen können, auf deren Gesichtern sich zuweilen eine gewisse Enttäuschung zeigte, als der Abend zunehmend zu einer One-Man-Show geriet.
Eine späte Solidaritätsbekundung
Auf der Berlinale war der Silberne Bär für Polanski auch als politisches Signal zu verstehen gewesen; zu jener Zeit stand er allerdings noch unter Hausarrest. Der EFA-Segen ist eine späte, eigentlich überflüssige, aber umso deutlichere nachträgliche Solidaritätsbekundung der rund 2300 Akademiemitglieder. Ein solidarischer Akt, von dem nicht nur Polanski profitierte - der für Regie, Drehbuch und den Besten Film ausgezeichnet wurde -, sondern auch sein Hauptdarsteller Ewan McGregor, sein Filmkomponist und sein deutscher Ausstatter Albrecht Konrad.
Aber so einfach darf man es sich natürlich nicht machen. Die Fußfessel mag eine Rolle gespielt haben, aber bei aller Solidarität ist Polanskis Fall um sein altes Sexualdelikt auch innerhalb der Akademie nicht unumstritten. Nein, sein Film ist nicht nur bester Mainstream (was in Europa nicht so häufig vorkommt), er liefert dabei - nach Robert Harris' Bestseller über die Verstrickungen eines (fiktiven) britischen Ministerpräsidenten in den (realen) Irakkrieg - reichlich Blair- und kriegskritische Untertöne mit, die den Film weit über das reine Genreformat erheben.
Und der 23. Jahrgang des Europäischen Filmpreises war, das haben die Nominierungen klar gezeigt, politisch wie lange nicht. In den meisten Filmen standen persönliche Konflikte in größerem soziopolitischem Kontext. Und sie forderten eine Haltung ein; von den Protagonisten, aber auch vom Publikum. Das zeigten Dramen wie "In ihren Augen" über die argentinische Militärdiktatur, "Von Menschen und Göttern" über einen nie ganz geklärten Mord an französischen Priestern in Algerien oder auch der deutsche Film "Die Fremde" über das Reizthema Ehrenmord - auch wenn all diese Filme am Ende leer ausgingen. Das zeigte vor allem auch "Lebanon", der zweite Sieger des Abends - oder doch der zweite Film, der immerhin zwei Auszeichnungen mit nach Hause neben durfte: Samuel Maoz' autobiographisch gefärbter Film über den Ausbruch des ersten Libanonkrieges 1982, der konsequent aus der Sicht einer Panzerbesatzung gezeigt und zu einem leidenschaftlichen Appell gegen jede kriegerische Handlung wird.
Das alles hätten noch einmal Themen sein können in Tallinn. Sie waren es nicht. Das mag auch daran gelegen haben, dass einmal mehr die Siegerfilme schon ein wenig älter und längst um die Welt gegangen sind; "Lebanon" gewann den Goldenen Löwen in Venedig 2009, "Ghostwriter" wurde im Februar auf der Berlinale uraufgeführt. Es lag aber auch am Winterchaos - wer wie auf welchen Umwegen mit wie viel Verspätung in dem nördlichsten der baltischen Staaten ankam, dazu konnte jeder der Gäste eine kleine Geschichte erzählen. Dass viele Nominierten mit Abwesenheit glänzen, ist leider keine Seltenheit beim Europäischen Filmpreis. Die Reiseunlust in diesem Jahr kann man allerdings leichter nachvollziehen.
Bruno Ganz fürs Lebenswerk geehrt
Dabei hat die Gaststadt alles getan, um sich ins rechte Licht zu setzen. Wie schon letztes Jahr Bochum als Teil von Ruhr 2010, war auch für Tallinn die Verleihung des Europäischen Filmpreises vorzeitiger Auftakt als Kulturhauptstadt Europas ab kommendem Jahr. Im Januar wird in Estland auch der Euro die derzeitigen Krooni ersetzen. Und das Land, seit 2004 EU-Mitglied, will sich mit diesem Auftreten ins europäische Bewusstsein bringen. Stadt- und Staatsprominenz kamen reichlich. Und das Zusammenspiel zwischen Anke Engelke und dem estnischen Schauspieler Märt Avandi als Moderatoren erwies sich als ausgesprochen harmonisch.
Wim Wenders hat hier eine liebevolle Hommage auf Bruno Ganz gehalten, der für sein Lebenswerk geehrt wurde. Ein großer Moment für den deutschsprachigen Film, auch wenn der Schweizer Mime dabei eher zum Inbegriff eines europäischen Schauspielers stilisiert wurde. Die deutschen Nominierten hatten an diesem Abend indes das Nachsehen, das galt für Fatih Akins Komödie "Soul Kitchen", die zu leicht war bei all der politischen Konkurrenz, aber auch für Feo Aladags "Die Fremde", die in der Kategorie Europäische Entdeckung "Lebanon" unterlag. "Lebanon" immerhin wurde auch mit deutschen Geldern finanziert. Und "Ghostwriter" entstand zu großen Teilen in Babelsberg, weshalb es auch - per Skype - Dankesworte dorthin gab. Polanski hatte eigentlich auch seinen nächsten Film, "Der Gott des Gemetzels" mit Kate Winslet und Christoph Waltz, im Februar in Babelsberg drehen wollen. Doch nun dreht er in Paris. Derzeit will der 77-Jährige seine Heimatstadt nicht mehr verlassen. Die Fußfessel wirkt noch immer nach.