Der türkische Ministerpräsident Erdogan hätte wohl kaum Freude an Tarik gehabt: Dessen Einbürgerungsverfahren steht kurz vor dem Abschluss, im Studium beschäftigt er sich gerade mit mittelhochdeutscher Lyrik und Hauptmieter Henrik versichert ihm: „Du bist Deutscher als alle Deutschen zusammen!“ Und auch die anderen Mitbewohner der multikulturellen Wohngemeinschaft schätzen Tariks deutsche Tugenden. Der kommt zwar eigentlich aus Syrien, wird aber in der WG regelmäßig als Türke angesprochen. Ist ja sowieso alles eins und deshalb völlig egal, ob jemand aus Libyen, Jordanien oder Ägypten kommt: Aus Sicht der Mitbewohner ist ein Araber nun mal ein Araber – und steht damit selbstverständlich einem Terroristen viel näher als jedem EU-Bürger.
Die Integrationsdebatte, sie ist auf dem Boulevard angekommen: Wurde bislang vorzugsweise in Theatern in Kreuzberg oder Wedding unterhaltsam mit den Klischees der nationalen Eigenheiten jongliert, ziehen jetzt die Kudamm-Bühnen nach. Am Sonntag erlebte „Achtung Deutsch!“ seine Uraufführung in der Komödie am Kurfürstendamm. Hausherr Martin Woelffer hat das Stück des österreichischen Autors Stefan Vögel selbst inszeniert. Und dem Publikum einen pointenreichen, knapp zweistündigen, kurzweiligen Abend mit einem nur vordergründig sperrigen Thema präsentiert.
Das Stück dürfte kaum Chancen auf den Pulitzer-Preis haben. Stefan Vögel zieht sämtliche im Umlauf befindlichen nationalen Vorurteile in seiner Komödie wie Perlen auf einer Kette auf. Das ist ziemlich lustig. Alessandro Calabrese spielt den italienischen Studenten Enzo Danesi selbstverständlich als Latin-Lover im rosa Polo-Shirt, der zutiefst beleidigt ist, wenn jemand etwas Schlechtes über seine Mutter sagt. Oliver Dupont gibt den grantelnden, deutschhassenden, dem Alkohol zugeneigten und Freud schätzenden Österreicher Rudi Scheiber, der im 38. Semester Psychologie studiert. Agnieszka Guzikowska darf als männerfixierte Französin Virginie Aubert sprechen wie früher Natalie in der (H)arald-Schmidt-Show.
Alle drei haben so ihre Probleme mit der deutschen Sprache – und müssen schließlich eine deutsche Musterfamilie spielen. Mit Tarik Al-Hassan (Karim Cherif) als Oberhaupt, denn er ist der einzige, der akzentfrei Deutsch spricht. Zumindest der einzig Anwesende, denn WG-Hauptmieter Henrik Schlüter (Eric Bouwer) hat sich längst in den Skiurlaub verabschiedet und Tarik gebeten, den „Chaotenhaufen unter Kontrolle zu halten“. Prompt droht eine Kontrolle von der Wohnungsbaugesellschaft, die laut ihren Unterlagen davon ausgeht, dass in der Wohnung die vierköpfige deutsche Musterfamilie Schreiber (Vater, Mutter, zwei Kinder) lebt. Tarik sieht seine Einbürgerung gefährdet, wenn das Spiel nicht klappt. Also umräumen: Die Anti-AKW-Poster und andere politische Bekenntnisse weichen einem Ölbild Typ Röhrender Hirsch, der Kuckuck ruft in der Uhr, diverse Bierkrüge zieren die Regale. Der gläubige Moslem Tarik zieht ein Feinripp-Unterhemd an, schüttet sich ein bisschen Bier drüber und gaukelt Jochen Reize (Helmut Baumann) von der Wohnungsbaugesellschaft ein RTL-2-taugliches Assi-Familienleben vor. Als diese Inszenierung in der Inszenierung richtig auf Touren kommt, droht alles am plötzlich auftauchenden, gleichermaßen spießigen wie verschlagenen Nachbarn Friedhelm Schröder (Helmut Kraus) zu scheitern.
Das ist der Stoff, aus dem Regisseur Martin Woelffer eine vor der Pause supertemporeiche und danach leicht abgebremste Boulevard-Komödie inszeniert – und nebenbei auch dieses Genre zärtlich auf die Schippe nimmt. Die Schauspieler genießen es, das sie kräftig chargieren dürfen. Sie bringen die Klischees förmlich zum Tanzen.
„Achtung Deutsch!“ ist gewissermaßen das Boulevard-Gegenstück zu „Verrücktes Blut“ – diese Kreuzberger-Inszenierung wurde jüngst zum Berliner Theatertreffen 2011 eingeladen. Kudammbühnen-Direktor Martin Woelffer setzt mit „Achtung Deutsch!“ seinen Kurs der Spielplan- und Publikumsverjüngung fort. Noch stehen ihm dafür zwei Bühnen zur Verfügung, um auch die klassische Zielgruppe anzusprechen. Das wird ab 2012 oder 2013 mit nur noch einem Theater schwieriger. Aber mit solchen Inszenierungen sollte es ihm gelingen.
Komödie am Kurfürstendamm, Kurfürstendamm 206-209, Charlottenburg. Tel . :(030) 88591188. Termine: Bis 24. April 2011, täglich außer montags.