ARD-Dokumentation

Gregor Gysi bleibt ein Diener vieler Herren

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Henryk M. Broder

Foto: dpa / dpa/DPA

Ein Anwalt in eigener Sache: Gregor Gysi kommt es nicht auf die historische Wahrheit an, sondern darauf, im Geschäft zu bleiben.

Glauben ist etwas anderes als wissen. Katholiken glauben an die unbefleckte Empfängnis und die Jungfrauengeburt, Juden an die baldige Ankunft des Messias, schiitische Moslems an den in einem Versteck lebenden zwölften Imam und Kommunisten an die klassenlose Gesellschaft in der Diktatur des Proletariats. Religionen sind ihrem Wesen nach Glaubens- und keine Wissensgemeinschaften. Deswegen ist es auch jedem unbenommen, daran zu glauben, dass Gregor Gysi kein inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war und die Inhalte der Gespräche, die er mit seinen Mandanten unter vier Augen führte, auf wundersame Weise in die Unterlagen der Stasi geraten sind, so wie sich bei der Eucharistie der Leib und das Blut des Herren in Brot und Wein verwandeln.

Wer allerdings nach der Ausstrahlung der Dokumentation „Die Akte Gysi“ im Mitternachtsprogramm der ARD vergangenen Donnerstag noch immer daran glaubt, Gysi habe nicht im Interesse der Staatsmacht gehandelt, der glaubt nicht nur an Wunder, sondern auch daran, dass die Erde eine flache Scheibe ist, die in einem Riesenfass mit Rotkäppchen-Sekt schwimmt. Gysi selbst, der sich keine Talk-Show entgehen lässt und auch sonst jede Gelegenheit nutzt, sein Image als geistreicher Rhetoriker zu bestätigen, mochte sich in der Sendung nicht äußern. Dafür versuchte er die Ausstrahlung mit rechtlichen Mitteln zu verhindern, was ihm freilich nicht gelang.

Nun ist Gysi nicht verpflichtet, zu den Vorwürfen, die gegen ihn erhoben werden, Stellung zu nehmen, jeder Beschuldigte darf die Aussage verweigern, kein Verdächtigter muss sich selbst belasten. Allerdings, ein Anwalt, der seine Mandanten verraten haben soll, sollte sich verpflichtet fühlen, einen Beitrag zur Klärung des Sachverhalts zu leisten. Gysi sagt, er habe weder „willentlich“ noch „wissentlich“ mit der Stasi zusammengearbeitet. Das hört sich wie ein Teilgeständnis an. Zumindest führt eine solche Feststellung weg vom Tatbestand und hin zu den Umständen, unter denen eine Zusammenarbeit stattgefunden haben könnte: unwillentlich und unwissentlich.

Und was das Fehlen einer Verpflichtungserklärung angeht: Es ist nicht das einzige Dokument, nach dem bis heute vergeblich gesucht wird. Der Führerbefehl zur Endlösung der Judenfrage und der Befehl, Flüchtlinge beim Übersteigen der Mauer zu erschießen, gehören auch dazu. Gysi kommt es nicht auf die historische Wahrheit an, sondern darauf, im Geschäft zu bleiben. Er war schon in der DDR ein umtriebiger Adabei, er hat die Konkursmasse der SED über die Wende hinweggerettet, er hat eine autoritäre und totalitäre Organisation „in die Demokratie“ geführt, nicht um der Demokratie einen Dienst zu erweisen, sondern um die Organisation und ihre Kader vor dem Absturz zu retten.

Dass ihm dabei seine eigene Rehabilitation gelang, dass er nun die parlamentarische Demokratie mit derselben Vehemenz verteidigt, mit der er vorgestern den Untergang der DDR bedauerte, gehört zu den vielen Mysterien der „friedlichen Revolution“, in der deren Verlauf etliche Stützen der SED zu lupenreinen Demokraten mit Dienstwagen mutierten. Die Regierungen kommen und gehen. Gysi aber bleibt, was er schon immer war: Diener vieler Herren und dabei immer Anwalt in eigener Sache.