Der Bühnenflirt dauerte zwei Stunden. Arm in Arm verließen Anna Netrebko , 38, und Daniel Barenboim, 67, schließlich ein jubelndes Berliner Publikum, ganz so, als hätten sie ihren Auftritt selbst am meisten genossen. Ebenso groß war die Freude, als sich Diva und Maestro tags darauf in der Intendanz der Staatsoper Unter den Linden trafen. Fast schämten wir uns, das innige Zusammensein mit Interviewfragen stören zu müssen.
Welt am Sonntag: Herr Barenboim, gestern haben Sie Anna Netrebko am Klavier begleitet, beim russischen Liederabend in der Berliner Philharmonie. Haben Sie gezählt, wie viele Handküsse Sie ihr gegeben haben?
Daniel Barenboim: Man zählt nicht die Privilegien, die einem das Leben bietet ...
Welt am Sonntag: Wir sind irgendwann nicht mehr mitgekommen. Ist es hinter der Bühne auch so harmonisch?
Barenboim: Fragen Sie mich?
Welt am Sonntag: Sie beide.
Barenboim: Dann Ladies first. (Anna Netrebko kichert vergnügt) Also, Streit hatten wir nie. Meinungsunterschiede ja, aber keinen Streit.
Welt am Sonntag: Was für Meinungsunterschiede?
Barenboim: Etwas in der Art "Das ist zu laut, das ist zu leise, zu schnell."
Welt am Sonntag: Was haben Sie nach dem Konzert gemacht?
Anna Netrebko: Gegessen.
Barenboim: Anna hat uns in ihr Hotel eingeladen, und meine Frau hat dort für ihr russisches Lieblingsessen gesorgt.
Welt am Sonntag: Das da wäre?
Netrebko: Salate, ganz unterschiedliche Sorten. Und eine russische Torte! Ich bin gleich darauf zugestürmt und habe "Hände weg! Meine!" gerufen. Nach dieser Mahlzeit war ich ausgesprochen glücklich.
Welt am Sonntag: Als Sie zusammen die Romanzen geprobt haben - wer hatte das Kommando?
Barenboim: Die Musik.
Welt am Sonntag: Die Musik.
Barenboim: Ja, wirklich. Sehen Sie, Tschaikowsky ist wahrscheinlich der Komponist - gemeinsam mit Chopin -, der am meisten unter ihm aufgezwungenen Traditionen leidet. Seit Langem. Die Menschen nutzen seine Partituren nicht mehr im ursprünglichen Sinne, sondern - sehr negativ ausgedrückt - gebrauchen sie, um das zu illustrieren, was sie selbst dahinter vermuten. Eine gefährliche Sache.
Barenboim: Was für Traditionen meinen Sie?
Barenboim: Dinge, die ihm übergestülpt werden. Eine Verzögerung hier, ein Crescendo dort, und jedes Mal, wenn das Wort "Liebe" oder "Leid" auftaucht, wird es langsamer. Schlechte Angewohnheiten, die ...
Netrebko: (gibt missbilligende Laute von sich) ... es ist so leicht, Tschaikowsky sentimental klingen zu lassen und ihn zu verkitschen. Leider. Das wollten wir vermeiden.
Welt am Sonntag: Weil Sie sich als Russin in der Pflicht sehen?
Netrebko: Nein, solch große Worte passen nicht zu mir. Bei meiner Ausbildung im Konservatorium in Sankt Petersburg spielte Tschaikowsky natürlich eine wichtige Rolle, wir standen alle drei Monate damit auf der Bühne. Ahnungslos und unerfahren. Unsere Lehrer verwiesen auf berühmte Sänger, die wir zu kopieren versuchten. Das Ergebnis war schlimm. Seither habe ich so viele schlechte Interpretationen von Tschaikowsky gehört, dass ich irgendwann gesagt habe: Nein, damit ist jetzt Schluss. Vor den Proben haben wir das alles aus meiner Erinnerung gelöscht und ganz von vorn begonnen.
Barenboim: Schauen Sie, eine Partitur zu lesen - das klingt so simpel. Wie bei einem Buch oder Zeitungsartikel. Aber es gibt einen riesigen Unterschied: Bei einem Text nimmt man das auf, was der Autor ausdrücken will. Ohne Zwischenschritt. Bei einer Partitur ist das anders: Die Noten sind eben nicht die Musik. Die Musik ist das, was physikalisch daraus wird, was dann aus einem Mund oder einem Klavier kommt. Eine Partitur korrekt zu lesen bedeutet, diese Physik richtig zu lenken.
Welt am Sonntag: Ist es das, worüber Sie beide sich so unterhalten?
Netrebko: Oh, mein Gott, wie langweilig wären Menschen, die nur über klassische Musik sprechen. Wir könnten dann gar nicht mehr auftreten, wir wären längst eingeschlafen.
Welt am Sonntag: Was bedauerlich wäre. Herr Barenboim, was brachte Sie auf die Idee, ausgerechnet einen russischen Liederabend zu gestalten?
Barenboim: Ich liebe diese Musik. Eigentlich wollte ich den ganzen Abend mit Tschaikowsky füllen, aber Anna war das zu viel. Und ich bin ihr dankbar - sie hat stattdessen Rimski-Korsakow-Stücke vorgeschlagen, die ich gar nicht kannte.
Netrebko: Puh, ein ganzer Abend Tschaikowsky wäre einfach zu viel gewesen. Auch für meine Stimme.
Welt am Sonntag: Sie sagten einmal, die Lieder seien schwerer zu singen als manche Arie.
Netrebko: Ja, Tschaikowsky macht es einem richtig schwer. Nicht nur Sängern, auch Pianisten, Orchestern. Kollegen sagen, dass man sein ganzes Leben damit zubringt, ihn zu begreifen - am Lebensende ist man endlich so weit, dann aber ist es zu spät. Wie er komponiert hat, schwierig, einfach ...
Barenboim: ... nicht sängerfreundlich.
Netrebko: Die Zugabe von Dvorák, das hört man auch sofort, ist dagegen Honig für die Stimmbänder. Andererseits steckt in Tschaikowsky so viel Kraft, er ist so packend, dass man sich vorsehen muss, um nicht von den eigenen Gefühlen übermannt zu werden.
Welt am Sonntag: Vor einer Woche bei "Wetten, dass..?" sagte Thomas Gottschalk, Anna Netrebko könne egal was singen, und die Menschen wären verrückt danach. Ist das so?
Barenboim: Annas Ruf hat einen einzigartigen Status erreicht. Das gäbe ihr wahrscheinlich die Möglichkeit, "alles" zu singen. Dazu ist sie aber zu klug - Anna wird immer das tun, was richtig für sie ist. Und gute Ratschläge annehmen, darüber nachdenken und dann für sich entscheiden. Das ist aus meiner Sicht (hält Netrebko beide Ohren zu) das Beste an ihr, diese Intelligenz und wie sie mit ihrem Erfolg umgeht. Es geht ja nicht darum, abends vorm Zubettgehen in den Spiegel zu schauen und zu jubeln: Sieben Millionen und neunhundertzweiunddreißigtausend Menschen haben mich heute bewundert. Verstehen Sie mich nicht falsch: Anna ist nicht naiv, sie kennt ihren Rang. Aber sie begreift ihn als Ermutigung, um noch besser zu werden. Von den ohnehin schon sehr wenigen Menschen, die so weit oben stehen wie sie, besitzt kaum einer solche Klugheit.
Welt am Sonntag: Frau Netrebko, verspüren Sie manchmal Versagensangst?
Netrebko: Nein. Ruhm und Erfolg - das ist heute. Morgen kann es schon vorbei sein. Und wenn der Ruhm schwindet, dann ist das eben so. Was mir niemand mehr nehmen kann, sind die Opernhäuser, die größten Orchester und Dirigenten der Welt, in denen und mit denen ich auftrete.
Welt am Sonntag: Wäre die Klassik ohne Stars wie Sie beide weniger populär? So wie die Formel 1 ohne Michael Schumacher?
Barenboim: Das ist ja kein neues Phänomen, es gab immer Stars - Caruso, Rubinstein, Menuhin, Callas. Aber jetzt, da die Reichweite so groß ist, müssen ...
Netrebko: ... die Ticketpreise runter.
Barenboim: Ja, und wir brauchen mehr musikalische Ausbildung in den Schulen. Es gibt so viele kultivierte Menschen, die Tolstoi gelesen haben oder Goethe und Shakespeare. In welches Land man auch blickt - sie wissen so viel und haben doch keinen Bezug zur Musik. Nicht von zu Hause aus, nicht aus der Schule, sie wissen nichts darüber. Obwohl ihre Existenz, ihr Leben damit so viel reicher wäre.
Welt am Sonntag: Einer neuen Studie zufolge liegt das Durchschnittsalter von deutschen Konzertbesuchern mittlerweile bei 60 Jahren, 1990 lag es noch bei 49 ...
Barenboim: ... aber parallel dazu steigt doch die Lebenserwartung! (lacht)
Welt am Sonntag: Frau Netrebko, Sie sagten, die Ticketpreise müssten sinken. Wie viel sollten Karten Ihrer Meinung nach kosten?
Netrebko: Keine Ahnung, aber manche Menschen können sich einen Opernbesuch nicht mehr leisten, weil er zu verdammt teuer ist. Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise. Aber ich habe mal eine Familie getroffen, die mir sagte, sie hätte auf ihre Ferienreise verzichtet, um mich auftreten zu sehen. Das hat mir fast das Herz gebrochen. Keinen Urlaub zu machen, um sich zwei oder drei Tickets für einen einzigen Abend zu kaufen. Das darf einfach nicht sein.
Welt am Sonntag: Ist es fair, dass die Sponsorengelder vor allem an die großen Bühnen mit Berühmtheiten wie Ihnen gehen, das übrige kulturelle Angebot aber chronisch unterfinanziert ist?
Barenboim: Das hat doch auch gesellschaftliche Ursachen - schauen Sie sich unseren Umgang mit der Musik an, der ist nun wirklich nicht hilfreich: Überall dudelt es. Überall. Im Fahrstuhl. Im Restaurant. Im Flugzeug. Und so gewöhnt man sich daran, dass Musik da ist, ohne dass man ihr zuhören muss. Das ist das Schlimmste.
Welt am Sonntag: Musik wird zu Hintergrundmusik degradiert?
Barenboim: Ich schildere mal mein Erlebnis auf einem Flug nach Wien, auf dem Weg zu Proben für das Neujahrskonzert. Um mich herum saßen einige Passagiere, die eben dieses Konzert besuchen wollten. Nach der Ansage des Flugkapitäns ertönte "An der schönen blauen Donau" aus den Lautsprechern, der Walzer. Die Passagiere unterhielten sich einfach weiter, Konversation, Lachen und Geschrei ... Ich dachte nur: Wie im Himmel wollen die Menschen sich in ein paar Tagen auf die wundervollen Wiener Philharmoniker konzentrieren, wenn sie hier nicht ansatzweise das Gefühl haben, etwas Großartiges zu hören.
Welt am Sonntag: Während des Konzerts wurde dann aber nicht geplaudert?
Barenboim: Nein, aber worauf ich hinauswill: Der heutige gesellschaftliche Umgang mit Musik ist dem Zuhören nicht dienlich.
Welt am Sonntag: Wie sieht es denn mit Handy-Gedudel aus? Welche Klingeltöne haben Sie?
Netrebko: Das ist mir ganz egal, irgendein "Hello Moto" oder so ... Hauptsache, es ist nicht so laut. Das stellt mir immer eine Freundin ein, ich weiß nicht, wie das funktioniert. Ich würde mir ja einen anderen Ton herunterladen, aber wie?
Barenboim: Bei mir hört man Samba aus Brasilien! (zu Netrebko) Anna, ruf mich mal schnell an!
Netrebko: Ich hab' deine Handynummer nicht, du rufst immer mit unterdrückter Nummer an.
Barenboim: Komm, du hast mir so viele SMS geschickt ...
Barenboim: (Anna Netrebko fischt ein schwarzes, mit pinkfarbenen, glitzernden Steinen besetztes Motorola-Klapphandy aus ihrer Handtasche)
Netrebko: Warten Sie, ich habe die Barenboim-Nummer. (sucht auf dem Handy) Eine Sekunde ... Ah, hier (zeigt Barenboim die Nummer). Diese hier, oder?
Barenboim: Warte, ich ... Nein. Das ist die alte Nummer. Die habe ich schon vor Monaten geändert. (Er schnappt sich Netrebkos Handy, tippt seine eigene Nummer ein) So, dann kannst du sie danach speichern.
Barenboim: (Daniel Barenboim holt auch sein eigenes Handy hervor, arbeitet hoch konzentriert an beiden Geräten)
Welt am Sonntag: Frau Netrebko, zwischen Ihrem Vater und Ihnen gab es mal folgenden Dialog - er: "Diese Oper, in der du schon wieder stirbst ..." Sie: "Aber da sterben doch alle ..." Er: "Ich habe genug davon ..." Haben Sie auch genug davon, ständig den Bühnentod zu erleiden?
Netrebko: Na ja ...
Netrebko: (Barenboims Handy entspringen brasilianische Samba-Klänge, dazu eine sanfte Frauenstimme. Der Maestro ist sichtlich erfreut, die Star-Sopranistin neben ihm beginnt einen Sitz-Samba ...)
Netrebko: Das hört sich wirklich gut an.
Barenboim: So, und jetzt hast du meine Nummer!
Netrebko: Okay, sorry - wo waren wir?
Netrebko: Ob Sie den Bühnentod leid sind.
Netrebko: Nein. Aber die wenigen Opern, in denen ich nicht sterbe, machen mich richtig glücklich. Ein Happy End ...
Welt am Sonntag: Meinen Sie, Sie könnten das auch noch einmal auf Deutsch sagen? Wir planen einen Radio-Werbespot für die "Welt am Sonntag" mit Auszügen aus diesem Interview.
Netrebko: Uh, ich kann mich an keinen deutschen Satz erinnern, es ist so eine schwere Sprache.
Barenboim: (auf Deutsch) Sag: Ich sterbe ungerne auf der Bühne. (lacht)
Netrebko: Ich sterbe ... (Pause) Ich sterbe ...
Barenboim: U-n-g-e-r-n-e.
Netrebko: Ich sterbe ungerne auf der Bühne.
Barenboim: Und auch außerhalb.
Netrebko: Undauchaußerhalb.
Netrebko: (Ein krachendes barenboimsches Lachen ertönt.)
Netrebko: Was? Was habe ich gesagt? Was heißt das?
Netrebko: (Barenboim übersetzt.)
Netrebko: Ja, das stimmt, außerhalb auch nicht!
Welt am Sonntag: Was schätzen Sie an Daniel Barenboim am meisten?
Netrebko: Oh, so viel Lob darf er nicht hören ... Schwierig. Man weiß nie, was er besser kann - dirigieren, Klavier spielen oder ganze Partys mit seinem herrlichen Humor unterhalten.
Welt am Sonntag: Was macht Sie an ihm verrückt?
Netrebko: Sein Wahnsinn, bezogen auf die Musik. Sie ist das Wichtigste in seinem Leben. Natürlich auch seine wunderbare Frau, die Kinder, die ihn unterstützen und die er liebt. Aber sein Leben ist die Musik. Jeden Tag, wirklich jeden Tag, etwas Neues zu kreieren ... Musik zu leben. Er ist ein Genie.
Welt am Sonntag: Herr Barenboim, was stört Sie an Anna?
Barenboim: Dass ich sie nicht oft genug sehe und nicht genug mit ihr zusammen musizieren kann. Das irritiert mich zunehmend ...
Welt am Sonntag: Daniel Barenboim ist ein politischer Mensch, sind Sie das auch?
Netrebko: Nein, ganz und gar nicht. Ich halte mich von Politik so fern wie möglich.
Welt am Sonntag: Sie haben von den Anschlägen in Moskau gehört ...
Netrebko: (zögert lange) Was dort passiert ist, ist grauenhaft. Mehr möchte ich dazu nicht sagen ... Wissen Sie, wenn dann noch Religion ins Spiel kommt ... Ich lehne Religion ab. Man mag ihre Geschichte studieren oder sie in sich tragen. Aber ein Gott, der die Hand beim Töten führen soll - nein.
Netrebko: Was war bislang der beste Ratschlag von Daniel Barenboim?
Netrebko: Dieser Liederabend, also etwas ganz Neues zu probieren. Das war ein toller Rat. (zu Barenboim) Danke, Maestro.
Welt am Sonntag: Denken Sie dabei, zum Beispiel während der Wiegenlieder, an Ihren Sohn Tiago?
Netrebko: Gar nicht, nein, ich vermische mein Privatleben nicht mit meinen Auftritten. Ich schöpfe beruflich auch nie bewusst aus meinen persönlichen Erfahrungen. Aber natürlich sind sie da. In mir. Tiago vermisse ich gerade sehr, ich habe ihn einige Tage nicht gesehen, weil ich so viel hin und her gereist bin. Das wollte ich ihm nicht zumuten.
Welt am Sonntag: Wer passt in solchen Fällen auf ihn auf?
Netrebko: Meine Schwester, die Nanny und eine enge Freundin von mir. Die wechseln sich ab, es geht ihm gut und heute werde ich ihn endlich wiedersehen. Ich liebe ihn. Er wirkt sehr ernst, sehr erwachsen. Manchmal schaut er mich an und ich bin ganz ergriffen von diesem ernsten Blick. Ich versuche, bald mehr Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Meine Auftritte in den nächsten Jahren werden also etwas seltener.
Welt am Sonntag: Wo fühlen Sie sich am meisten zu Hause?
Netrebko: Von meinen drei Wohnorten - Wien, Sankt Petersburg und Manhattan - ist New York meine Lieblingsstadt, aber ich kann dort nie länger als drei Monate am Stück bleiben. Visageschichten, andere Engagements ... (zu Barenboim) Du musst mich besuchen kommen! Es ist so wunderschön.
Barenboim: Wo liegt dein Apartment?
Netrebko: In der Nähe der Met, Riverside, gleich neben dem Hudson. Im 32. Stock. Es ist fantastisch, du musst kommen!
Welt am Sonntag: Herr Barenboim, was bedeutet Heimat für Sie?
Barenboim: Im Gegensatz zu vielen Kollegen - Pianisten zum Beispiel, die jeden Abend in einer anderen Stadt auftreten - reise ich gar nicht so viel herum. Ich verbringe ein paar Monate im Jahr in Mailand, lebe aber nun seit 19 Jahren in Berlin, mit meiner Familie, in meinem Haus. Das ist mein Zuhause. Mein Hintergrund ist natürlich etwas komplexer, Argentinien, Israel, London, Paris, Chicago ... Spirituell empfinde ich Jerusalem als meine Heimat, aber ein Jerusalem - das philosophische und interreligiöse Zentrum -, das es so nicht mehr gibt.
Welt am Sonntag: Hatten Sie genug Zeit für Ihre beiden Kinder?
Barenboim: Mit Kindern ist es wie mit allem anderen, ob nun mit der Ehefrau oder Freunden: Entweder ist es zu viel oder zu wenig. Meine Frau wäre nicht erfreut, säße ich 18 Stunden am Tag bei uns zu Hause, meine Söhne ebenso wenig. Sie sind mittlerweile erwachsen, 24 und 27. Interessant ist, dass sie die gleichen Eltern und die gleiche Erziehung hatten, aber dennoch völlig verschieden sind - in ihren Stärken und Schwächen. Deshalb können wir uns nicht mit ihren Vorzügen brüsten. Andererseits müssen wir uns auch nicht unbedingt die Schuld für die Dinge geben, die uns an ihnen aufregen.
Welt am Sonntag: Welchen Erziehungstipp würden Sie Anna Netrebko geben?
Barenboim: Dass man es eh nicht richtig machen kann. (zu Netrebko) Tiago ist noch nicht einmal zwei Jahre alt, aber du wirst das auch noch feststellen. Man behandelt sie entweder zu lange wie Babys oder zu früh wie Erwachsene. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Meine Kinder sollten ihr eigenes Denkvermögen, ihren Weg und Eigenverantwortung spüren. Und sich nicht hinter den Rockzipfeln ihrer Mutter verstecken oder hinter der väterlichen Autorität. Das war manchmal nicht leicht, nicht für sie, nicht für mich. Aber ich bin glücklich und liebe sie beide. Auch, weil beide ihrer Leidenschaft folgen. David macht Hip-Hop, er ist ein Kind seiner Zeit. Er studiert in Boston, aber eigentlich lebt er im Internet.
Welt am Sonntag: Und Michael ...
Barenboim: ... ist Violinist und sehr neugierig. Heute spielt er ein sehr schweres Stück von Pierre Boulez im Rahmen eines Konzerts mit Mitgliedern des West-Eastern Divan Orchestra, dessen Konzertmeister er ist. Das Wichtigste ist, dass beide Söhne tun, was sie möchten.
Welt am Sonntag: Wie hören Sie sich die Hip-Hop-Musik Ihres Sohnes an? Besitzen Sie einen iPod?
Barenboim: Nein.
Netrebko: Okay, jetzt schockiere ich Sie bestimmt: Weder iPod noch Computer, und ich wüsste auch mit beidem nicht umzugehen. Ich besitze ein sehr altes Handy. Darauf beherrsche ich den grünen Knopf und den roten Knopf. That's it.
Welt am Sonntag: Ihr Lieblings-Popsong? Falls Sie ...
Netrebko: Doch! Ich höre Pop. Aber mein Lieblingslied ... Ich mochte diese Beth Ditto von "Gossip" am Samstag bei "Wetten, dass..?". Die war wirklich lustig. Und die "No Angels", die sind großartig.
Welt am Sonntag: Da Sie keinen iPod besitzen, laden Sie auch keine Musik herunter.
Barenboim: Nein. Meine Frau hat Internet. Wenn ich Zeit habe, gehe ich ...
Welt am Sonntag: Ins Kaufhaus?
Barenboim: Nein, da wo man die Musik ...
Welt am Sonntag: ... ?
Barenboim: Na, dieser ...
Welt am Sonntag: Zu Saturn?
Barenboim: Nein ...
Netrebko: YouTube?
Barenboim: Ja! Und ich schaue mir die alten Aufnahmen an, das ist wirklich interessant. Aber mir fehlt die Charakterstärke, damit aufzuhören, wenn Schlafenszeit ist oder ich eigentlich etwas anderes erledigen sollte. Ich erliege der Versuchung sehr leicht.