Es sind schon ein paar Kilometer zu Fuß. An kalten Getränken herrscht Mangel unterwegs, und hinter der nächsten Biegung steht garantiert kein brennender Dornbusch, geschweige denn Hape Kerkeling. Trotzdem: Das gerade höchst angesagte Pilgern auf dem Jakobsweg ist eine eher kommode Kontemplation, zumindest, wenn man es mit jener Wallfahrt vergleicht, der sich der große deutsche Romantiker Clemens Brentano vor knapp 200 Jahren unterzog.
Der pilgernde Dichter wanderte indes weniger, als dass er ausdauernd saß – und zwar an einem Krankenbett in Westfalen. Darin lag die Klosterschwester Anna Katharina Emmerick, so bleich wie matt, und angeblich von Gott in diesen Zustand versetzt: Sie blutete regelmäßig aus Brust, Stirn und Händen. Ihre Verehrer hielten das für die Wunden des Heilands. Die Stigmatisierte soll zudem schon seit Jahren weder etwas gegessen noch das Haus verlassen haben. In Trance schilderte sie überaus plastisch den Leidensweg Christi. Brentano stellte seine literarische Karriere zurück und betätigte sich als Annas Protokollant, sechs Jahre lang.
Die Nonne aus Dülmen wurde 2004 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Ihre Visionen beziehungsweise Brentanos Aufzeichnungen werden zwar selbst vom Klerus angezweifelt, beeinflussen aber noch heute die Vorstellungen von der Passionsgeschichte. Von der Begegnung des Dichters mit der Heiligen erzählt heute auf Arte „Das Gelübde“, der neue Fernsehfilm von Ausnahmeregisseur Dominik Graf, frei nach dem gleichnamigen Roman von Kai Meyer.
"Ich bin so unrein wie du“
War diese Frau wirklich so etwas wie ein Wunder? Oder handelte es sich einfach um Selbstverletzungen und Halluzinationen einer Verwirrten? Das sind die nahe liegenden Fragen, und sie werden im Film auch gestellt. Aber die Antworten sind hier erstens zweitrangig, und zweitens gibt es keine. Es geht hier nicht darum, was im naturwissenschaftlichen Sinne „wahr“ und „möglich“ ist. Es geht um Menschen, die diese Erscheinung feiern, weil sie sie brauchen und wahrhaben wollen. „Das Gelübde“ ist eine rätselhafte Studie über die Kraft des Glaubens. Wenn es darin eine Pointe gibt, dann die etwas unzeitgemäß wirkende Feststellung, dass der religiöse Fanatismus auch sympathische Seiten haben kann.
Misel Maticevic gibt einen Brentano, der nach privaten Katastrophen und beruflichen Niederlangen Halt bei Gott sucht. Dafür muss er den ausschweifenden Salonlöwen in sich bezwingen. Maticevic hat bereits mehrfach – ob in „Blackout“ oder „Die Todesmechanik“ – ähnlich ambivalente, obsessiv wirkende Figuren verkörpert. Im „Gelübde“ changiert er gekonnt von konvertitenhaftem Eifer zu wahnhafter Spiritualität und Selbstaufgabe. Seine alte Umgebung reagiert – gelinde gesagt überrascht. Brentanos ebenfalls prominente Schwester Bettina von Arnim (Maren Eggert) verdächtigt ihn, sich „das fromme liebe Kind“ nur selbst vorzuspielen. Und selbst wenn nicht: „Deine Seele wird fromm. Aber dabei wird sie doof.“
Tanja Schleiff („Der Untergang“, „Der rote Kakadu“) gibt der maladen Nonne – mal abgesehen von deren krampfartigen Zeitreise-Schüben – eine verblüffend diesseitige Anmutung. Nichts deutet darauf hin, dass die Visionen nur Kasperletheater wären. Statt sich anbeten zu lassen, sucht Anna lieber nach den dunklen, irdischen Seiten in sich. Sie entdeckt in sich sogar ein unheimliches Verlangen nach dem Leibhaftigen. „Pilger“, sagt sie zum ihr allzu ergebenen Brentano, „es nützt nichts, wenn du einen Goldrand um alles machst, was du sagst. Davon werden wir beide nicht heiliger.“ Seine Versuche, ihre Visionen literarisch aufzupeppen, wehrt sie ab: „Ich bin so unrein wie du.
Das strapazierte Klischee
Da sind also zwei Seelen, die sich aneinander festhalten, um sich selbst zu finden und ihren glühenden Glauben weiter anzufachen. Doch diese Liebe bezieht sich alsbald nicht mehr nur auf Gott. Es gibt da eine bizarre Beziehung zwischen beiden. Regisseur Graf kann das jenseits aller Pflegeheim-Erotik und frei von peinlichen Eindeutigkeiten inszenieren, weil er nicht nur seinen Protagonisten, sondern dem ganzen Film allerhand Mystik, Transzendenz sowie einige kryptisch aufgeladene Fieberschübe gönnt. Bei ihm ist die Nonne unerklärlicherweise nicht so ganz die verhärmte, ausgezehrte, der Welt entrückte Märtyrerin, die sie angesichts ihrer Krankengeschichte sein müsste. Doch genauso wenig passt auf sie das hinlänglich strapazierte Klischee von der sündiglüsternen Klosterfrau.
Abgesehen davon verweigert der Film sich auch ästhetisch überbordender Emphase. Einerseits sehen manche Szenen zwar so aus, als wären sie düsteren Ölgemälden alter Meister nachempfunden. Andererseits gibt es dazu nicht etwa die bei diesem Sujet beinahe obligatorischen süffigen geistlichen Choräle, sondern einen distanzierten Synthesizer-Soundtrack, wie ihn etwa John Carpenter in den 70er-Jahren für einen seiner frühen Horrorklassiker geschrieben haben könnte.
„Das Gelübde“ betrachtet Anna Katharina Emmerick und ihren kraftvollen Glauben voller Staunen und so respektvoll, dass ein Kritiker schrieb, dies sei „fast ein Akt der Heiligenverehrung“. Dieser Eindruck wird durch das Bild begünstigt, das der Film vom postnapoleonischen Deutschland zeichnet: Da prallt die selige Hingabe der bettelarmen, erzkatholischen Westfalen an ihre Wundertäterin, gewissermaßen als karges romantisches Idyll, auf eine eiskalte preußisch-protestantische Disziplinierungs- und Aufklärungsmaschinerie. Da stellt sich fast automatisch ein warmes Gefühl für jene ein, deren tiefes religiöses Bewusstsein vom fernen Berlin verhöhnt wird, und Abneigung gegen die, die sich Brentano als Kronzeugen gegen den „mittelalterlichen Mummenschanz“ zu kaufen suchen.
Doch deshalb muss Dominik Graf noch lange nicht zu den Sakralfilmern oder gar Anti-Aufklärern übergelaufen sein. Nein, die Kostüme sind zwar andere, aber im Grunde herrscht hier ein ähnlicher Tenor wie zuletzt in seinem überragenden Tagebau-Thriller „Eine Stadt wird erpresst“: Mit dem so genannten gesellschaftlichen Fortschritt gibt es immer dann ein Problem, wenn er unterschiedslos über Menschenmassen hinweg walzt, die er doch eigentlich beglücken sollte. Aber das hat er ja so an sich, der Fortschritt.
"Das Gelübde" läuft am Freitag, 30. Mai 2008 um 21 Uhr auf Arte.