Theatertreffen

Warum Regisseure Diktatoren sein müssen

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Tobi Müller

Am Freitag beginnt in Berlin das Theatertreffen. Jedes Jahr wählt dafür eine Jury die zehn "bemerkenswerten" Inszenierungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus. Diesmal ist ist kein Regisseur unter 40 dabei. Das Rennen machen die Exzentriker, die Jüngeren leisten Dienst am Kunden.

Bei Diskussionen schweigt er schon mal bis zur Peinlichkeit. Seine verschlossene Art kann aber auch in die Aggression kippen. Jürgen Gosch ist zuweilen exzentrisch, das Gegenteil eines Schwaflers. Und zurzeit der beliebteste Schauspielregisseur deutscher Sprache. Gleich zwei seiner Inszenierungen sind dieses Jahr zum Theatertreffen eingeladen, zur alljährlichen Bestenschau in Berlin.

Das offizielle Kriterium für eine Einladung heißt zwar "bemerkenswert" und wird seit 1964 immer wieder debattiert. Doch am Ende zählt die Präsenz in Berlin. Die von einer reisenden Kritikerjury zusammengestellte Liste ist eine Liste und damit unweigerlich eine Best-of-Auswahl. Eine Einladung zum Theatertreffen zählt etwas, auch wenn die Übergangenen oft von einer Edelveranstaltung sprechen. Die Schauspieler und die Regisseure sind in Berlin noch einmal besonders nervös, dies mehrere Monate nach der Premiere. Nicht zuletzt bessert eine Einladung das Budget des jeweiligen Theaters auf.

Jürgen Gosch mag manchmal granteln, freuen wird ihn die Doppeleinladung trotzdem. Bereits 2006 waren zwei seiner Inszenierungen geladen, "Drei Schwestern" und der blutige "Macbeth", der im Mittelpunkt einer leidigen Ekeltheaterdebatte stand. Dieses Jahr gibt es von Gosch Tschechows "Möwe" aus dem Deutschen Theater in Berlin sowie "Hier und Jetzt" von Roland Schimmelpfennig, eine Arbeit aus dem Schauspielhaus Zürich. Man wird den Störrischen mit einer satten Ladung Liebe zähmen: Am 3. Mai erhält Jürgen Gosch auch noch den Theaterpreis, die wichtigste von vielen Auszeichnungen, die von der Aufmerksamkeit des Theatertreffens profitieren. Er gewinnt gerade alles. Mit mittlerweile 65 Jahren.

Gosch ist in guter Gesellschaft: Keiner der nach Berlin geladenen Regisseure ist unter 40. Dabei hat das Theater eigentlich kein Nachwuchsproblem. Sie heißen Felicitas Brucker, Roger Vontobel, David Bösch, Jette Steckel oder Tilmann Köhler. Wenn sie sich frei fühlen wollen, dramatisieren sie Romane und bauen thematische Theaterabende, sogenannte Projekte. Ansonsten müssen sie viel über das Jungsein nachdenken, das fordern auch Dramaturgen. Irgendwann muss jeder Schillers "Kabale und Liebe" machen oder sich gegen Kleists "Käthchen" wehren. Sie tun das in der Regel furchtbar verständlich.

Tendenziell inszenieren die 30-Jährigen die Kunst als Dienst am Kunden. Meistens gut gemacht, meistens gut gespielt. Selten aufregend. Und nie komplexer, als dass man es nicht in 30 Sekunden nacherzählen könnte. Lebensgefühl light und Weltliteratur als Wikipedia-Eintrag. Fürs Theatertreffen reicht das zurzeit gerade nicht.

Diese mal bravere, mal frechere junge Regiegeneration hat keinen Stich gegen die Exzentriker jenseits der 40, die man im Berliner Festivalgehege beschauen kann. Das ist beunruhigend. Nicht für die jungen Regisseure, die werden ihren Weg auch ohne die Gunst der Stunde gehen. Beunruhigend ist die Diagnose vielmehr für den Theaterbetrieb selbst, der nur noch fördert, was sich auf der Bühne möglichst rasch vermittelt.

Der Bedeutungsverlust, den das Theater tatsächlich erfahren hat, führt zu berechtigter Angst in den Theaterleitungen. Dummerweise trägt man diese Angst aber auf dem Rücken der Jüngeren aus. Diese Generation wurde zum Pragmatismus erzogen. Jetzt erfüllt sie die Kassenkriterien der Machbarkeit, Kommunikation und Kundennähe. Meist sind die Jüngeren auch dankbare Interviewpartner. Sie sind beredt und kooperativ. Aber nicht zu konkret, denn das könnte stören.

Bei manchen Älteren ist die Verweigerung dann schon wieder Programm. Etwa bei Volker Lösch, dessen plumpe Inszenierungen eine kapitalismuskritische Pose anschlagen, die mit Sprechhören einen Anschluss an die Antike behaupten, wo doch nur Muskelspiel herrscht. Im Jahr der Krise kam die Jury am lauten Lösch nicht vorbei, sein "Marat" nach Peter Weiss hat es endlich geschafft. Diese Exzentrik ist warenförmig, immer gleich, total vorhersehbar. Gosch aber lässt sich nicht berechnen.

Den Theaterpreis teilt sich Gosch, wie fast jede Ehrung, mit seinem Bühnenbildner Johannes Schütz. Auch Schütz ist ein Armeverschränker und Gesprächsverweigerer. Obwohl es beim Theatertreffen um ihre Kunst geht und nur am Rande um ihre Person, liebt man sie letztlich auch dafür. Für ihre Bockigkeit. Für ihren mal geheimnisvollen, mal klugen, mal bloß autoritären Auftritt. Man ist fasziniert von ihrem Unwillen, ein Wort wie Kommunikation in den Mund zu nehmen. Und man sieht die Sturheit am Ende eben auch in ihrer Kunst. Man nennt sie dort nur anders: Konsequenz.

Nie sitzt man bei Gosch und Schütz im Theater und denkt, dass man einer reinen Ranschmeißerei an das Publikum beiwohnt. Man muss sich als Zuschauer dieser Kunst auch nähern wollen. Wer sich nur narzisstisch gespiegelt sehen will und erwartet, dass das Theater ihn irgendwo "abholt", dem wird die Zeit lang. Bringt man aber die Bereitschaft mit, die Kunst könnte einem auch etwas anderes erzählen, ist das Leiden bereits vorbei. Zum Beispiel "Hier und Jetzt".

Es wird eine Sternstunde, auch wenn die Konstellation erst einmal nicht dafür spricht: "Hier und Jetzt" dauert zweieinhalb pausenlose Stunden, der Text von Roland Schimmelpfennig arbeitet mit vielen Wiederholungen, die Bühne besteht im Zentrum aus nichts als einer langen Hochzeitstafel. Wie sich das alles verschränkt und zu einer Wucht türmt aber, ist einzigartig. Das kann nur einem Haufen Eigensinniger gelingen. Erst fällt Tageslicht von außen auf die Bühne, allmählich gemischt mit warmem Kunstlicht - eine diesige Stimmung, die man kaum noch einer Tageszeit zuordnen kann. Wie es der Titel sagt, handelt "Hier und Jetzt" immer wieder vom Moment, in dem die Zeit weder Vergangenheit noch Zukunft kennt: Die Wiederholungen als Zeichen des Vergessens sind Programm.

Und die tafelnde, taumelnde Hochzeitsgesellschaft ist ein Echo auf Shakespeares "Hamlet", wo in der zornigen Rede des Dänenprinzen dasselbe Gelage für die Beerdigung des Vaters, die Hochzeit des Onkels und auch noch für dessen Krönung herhalten muss. Es ist eine Zeit ohne Verlauf, ohne Geschichte.

"Aus den Fugen" eben. Dass die Zuschauer auf eigens aufgeschütteten Grashügeln sitzen, fügt sich so zum Schreckensbild: Es sind Grabhügel, und wir sitzen auf den Toten.

Entzündet von so viel Rausch und einem entfesselten Schauspielerreigen, könnte man bald beeindruckt nach Hause gehen. Und sich allenfalls fragen, ob dieses dunkle Fest der Geschichtslosigkeit nicht ein bisschen depressiv sei. Doch Schimmelpfennig und Gosch lassen das nicht so stehen. Sie verschweigen keineswegs, was die Wonnen des Moments sind.

"Hier und Jetzt" heißt auch ein Lied der Band Fehlfarben, der deutschen Helden des Punk. Man darf davon ausgehen, dass der 42-jährige Dramatiker Schimmelpfennig die Band kennt. Der Augenblick bei Fehlfarben, das ist der letzte geschützte Ort des Individuums. Ein Ort der authentischen Erfahrung. So durchlebt das Personal auch in "Hier und Jetzt" das Leben jeden Augenblick wieder neu. Die Beschreibung eines Herbstblattes im Wind führt zu Staunen, die Geste des Einschenkens misslingt: Es sind Erfahrungen eines Kindes - oder eines Alzheimerpatienten. Das ist poetisch, erbärmlich, albern und gescheit zugleich. Mittelmäßig aber ist es nie.

Der zweite Gosch-Abend am Theatertreffen ist im direkten Vergleich gewöhnlicher. Doch die unbarmherzige Genauigkeit, mit der Gosch die 100-jährigen Stücke von Anton Tschechow erzählt, erscheint schon wieder besonders. Nach "Kirschgarten" und "Onkel Wanja" ist es nun das Künstlerdrama "Die Möwe" im Deutschen Theater, das Gosch und Schütz in einen Bühnenkasten setzen wie Forscher kranke Ratten. Forscher zeigen großes Interesse an ihrem Verhalten. Mitgefühl würde aber stören, der Blick bleibt kalt und klar. Es gibt in der "Möwe" zur Hauptsache eine Mutter und Schauspielerin, ihren Liebhaber und erfolgreichen Schriftsteller, ihren Sohn und erfolglosen Schriftsteller, seine Freundin und junge Schauspielerin. In diesem Viereck muss sich eine Inszenierung verhalten.

Gosch macht es schön perfide: Er zeigt den erfolgreichen Schriftsteller Trigorin ohne Größe, ohne Glamour. Die Liebe der jungen Schauspielerin Nina wird so als Projektion entlarvt. Gosch entwertet damit den konkreten Streit um die Kunst als Geschwätz. Tatsächlich war die Kunst im Künstlerdrama, bei Lichte besehen, schon immer eine Krücke. So hofft man gut gelaunt, Gosch führe mit seiner gespenstischen Perfektion den Tschechow-Boom an sein wohlverdientes Ende. Denn man sieht hier in Vollendung, wie man die Lethargie einer Gesellschaft mit individualpsychologischen Mustern erklären kann. Das war die Stärke des bürgerlichen Theaters. Und gleichzeitig seine krasse Begrenztheit.

Es sind zwei andere Exzentriker, die beim Theatertreffen den bürgerlich-psychologischen Kunstbegriff sprengen, indem sie ihn überspannen. Es sind der Endvierziger Christoph Schlingensief und der Frischvierziger Joachim Meyerhoff. Sie spielen mit ihrem Innenleben, stülpen es nach außen und schrauben es hochtourig in ihre Hyperfiktionen hinein. Schlingensief gruppiert seit drei Produktionen alles um seinen Lungenkrebs. Und Meyerhoff füllt mit seinen Soli über seine Biografie als Sohn eines deutschen Psychiaters das Wiener Akademietheater in Serie.

Die Kunst, c’est moi: Da wird weder bei Schlingensief noch bei Meyerhoff lange ein seismografisches Lebensgefühl vorgeschützt, sondern gleich mit dem Messer die eigene Bauchdecke geöffnet. Es ist reflektiertes Reality-TV mit den Mitteln des Theaters.

Vielleicht sind Schlingensiefs "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" von der RuhrTriennale, sein "Zwischenstand" aus Berlin und das Wiener "Mea Culpa" alles Versuche, die Krankheit durch ihre öffentliche Kunstwerdung ein Stück weit zu bannen. Das Theatertreffen wird mit der "Kirche der Angst" eröffnen. Man wünscht Herrn Schlingensief alles Gute. Und man wird sich trotzdem wundern, wie sehr seine Amokkunst schon immer ernst gemeint war. Jetzt, da der Tod ihn bedroht, hat der letzte Zuschauer den Zweifel verscheucht: Hier setzt einer auf der Bühne sein Leben aufs Spiel. Und wenn Meyerhoff im Dreiteiler "Alle Toten fliegen hoch" seinen amerikanischen Brieffreund, den Mörder Randy, auf die Bühne bittet, wird auch in Berlin der Schauer des Wirklichen durch den Saal wehen.

Man wird immer noch debattieren dürfen, wie man das findet. Aber man wird zumindest etwas zu debattieren haben. Ohne solche Exzentriker reduziert sich das Theater jedoch zu einer Zusammenfassungsanstalt. Einverstanden: Arschlöcher allein garantieren noch kein gutes Theater. Langweiler aber leider schon gar nicht.