Vater und Tochter liegen sich auf offener Bühne in den Armen. Es ist ein rührender, keineswegs kitschiger Moment. Und die Band spielt, als letztes Stück eines langen Abends in der sommerwarmen Spandauer Zitadelle, „Happy Birthday“. Stevie Wonder hat das Stück einst für Bürgerrechtler Martin Luther King geschrieben und damit nachdrücklich dazu beigetragen, dass Kings Geburtstag in den USA zum nationalen Feiertag erhoben wurde. Später wurde das Lied ausgeleiert als nervtötender, nie enden wollender Geburtstagsfetensong. Nun singt Stevie Wonder das Lied für seine Tochter Sophia, die am Konzerttag in Berlin Geburtstag hat. Es ist das sehr persönliche Finale einer furiosen Show, mit der der blinde Pop-Revolutionär nach mehr als 20 Jahren zurückgekehrt ist nach Berlin. Endlich.
Mehr als sechseinhalb Tausend Besucher sind am Dienstagabend gekommen, um dem inzwischen gemütlich füllig gewordenen 60-Jährigen, der sich in den letzten Jahrzehnten so rar gemacht hat, ganz nahe zu sein. Und der mit seinem von Soul, Funk und purem Pop beseelten Sound nachwachsende Musikergenerationen bis heute beeinflusst, anstachelt und inspiriert. Man huldigt von Anbeginn einer Legende, die es sich leisten kann, mit eineinhalbstündiger Verspätung zu erscheinen, dafür aber nahezu zweieinhalb Stunden nicht mehr von der Bühne geht. Zehn Musiker, einen Chorsänger und zwei Chorsängerinnen hat er mitgebracht. Einige davon haben sich bereits am Vorabend des Konzerts auf der kleinen Bühne des Charlottenburger Jazzclubs A-Trane warm gespielt. Nun stärken sie Stevie Wonder den Rücken, als er mit funky japsendem Umhänge-Keyboard erscheint.
Wonder spielt nahezu alle seine großen Hits
„My Eyes Don’t Cry” steht am Anfang dieser pulsierenden Hit-Revue. Es ist ein Stück vom 1987er-Album „Characters” und einer der neueren Titel an diesem Abend. Denn Wonder, der einstige Kinderstar, der bereits mit 13 Jahren seinen ersten Hit landete, hat sein Gesamtwerk genau genommen bereits Ende der 70er Jahre vollendet. Mit LP-Großtaten von „Talking Book“ über „Songs in the Key of Life“ bis “Hotter Than July“, auf denen er voller ideensprühender Spiellust und Experimentierfreude dem Soul die Keyboard- und Synthesizersporen gab.
Und er spielt in der Zitadelle nahezu alle seine großen Hits wie „Living In the City“, „Sir Duke“, „I Wish“ und natürlich „Superstition“ mit diesem irrsinnigen Funk-Riff auf dem knackend krächzenden Clavinet. In „Master Blaster (Jammin’)“ baut er eine Zeile für US-Präsident Barack Obama ein, dessen Wahlkampf er einsatzkräftig unterstützt hat, dazwischen streut er Coverversionen von „We Can Work It Out“ von den Beatles oder „When I Fall in Love“ von Nat King Cole. „Ich bin so glücklich, wieder in Berlin zu sein“, ruft er ins schwelgende Auditorium. Nun ja, zuletzt war er 1987 hier, an einem verregneten Tag in der Waldbühne. Er hat tatsächlich lange auf sich Warten lassen. Er hat sich auch mit Platteneinspielungen viel Zeit gelassen, seine letzte, wohlwollend aufgenommene und wieder vergessene mit dem Titel „A Time To Love“, erschien 2005.
Tochter Sophia zum Geburtstag an seiner Seite
Irgendwann in der Mitte der Show taucht Tochter Sophia auf und setzt sich am Piano an die Seite. „I Can See You“ sagt er mit einem breiten Grinsen zu ihr und spielt für sie als ersten Geburtstagsgruß „Isn’t She Lovely“. Später wird ihm von einer der Chorsängerinnen ein „Zaubertrank“ eingeflößt und – der Elektronik sei Dank – aus Stevie Wonder wird „Little Stevie Wonder“, der mit heliumheller Stimme seinen 47 Jahre alten Hit „Fingertipps“ wiederbelebt. „Fingertipps“ war der Beginn eines genialischen Höhenflugs, der frischen Wind in Barry Gordys Motown-Imperium brachte. Anders als andere Kinderstars hat Stevie Wonder nahezu alles richtig gemacht. Er hat sich vertragliche musikalische Unabhängigkeit zusichern lassen. Er hat sich auch von Rat und Forderungen seiner Plattenfirma nicht abhängig gemacht. Er hat dann allerdings zu immer seichteren Mainstreamleichtigkeiten hinreißen lassen. Wie „Ebony and Ivory“ im Duett mit Paul McCartney, das in der Zitadelle glücklicherweise ungehört bleibt.
Doch selbst einen Schmachtfetzen wie „I Just Called To Say I Love You“ kann man ihm heute verzeihen. Den Oscar, den er 1984 dafür bekam, widmete er dem damals inhaftierten Apartheidopfer Nelson Mandela. In der Zitadelle erklingt die so fürchterlich eingängige Schnulze nun mit tausendfachem Publikums-Chor. Auch auf der Bühne wird es gegen Ende voller. Für „Rain Your Love Down“ erscheint ein vielköpfiger Frauenchor im Rampenlicht, beim hitzig brasilianisch glühenden „Another Star“ tauchen auch noch sieben zusätzliche Perkussionisten auf, die das treibende Stück vom 1976er-Album „Songs In The Key Of Life“ machtvoll zum Höhepunkt treiben.
Dann liegen sich Vater und Tochter in den Armen. Und Stevie Wonder predigt seine lebenslange Botschaft in die glückliche Menge: „Use your heart to love everybody.“ Mit einem von Herzen kommenden „Bless you“ verabschiedet er sich. Die Trommler legen sich noch einmal ins Zeug, dann ist ein denkwürdiger, geradezu musikhistorischer Abend zu Ende. Keine Zugabe mehr. Nur dieses „Happy Birthday“ geht einem noch lange nicht mehr aus dem Kopf.