Heute bewirbt jede Band ihre Werke via MySpace, Facebook und Twitter, doch nur die Scissor Sisters haben zu diesem Zweck auch die Seite Rentboy.com im Programm. Auf der Plattform für Callboy-Dienste hat sich ihr Sänger Jake Shears ein Profil (blaue Augen, Schwimmerfigur, 69 kg, 1,75 m, milde Körperbehaarung) anlegen lassen, das seine Talente als Stripper und Go-go-Tänzer anpreist: "Bin bodenständig, haben tonnenweise Energie und werde dich die ganze Nacht über zum Schwitzen bringen." Seine Gefälligkeiten sind für knapp zwölf Dollar zu haben, was in etwa dem Preis des neuen Scissor-Sisters-Album "Night Work" entspricht.
"Es gibt viele Gründe, warum Leute nachts wach bleiben", sagt Shears und zählt die wichtigsten kurz auf: "Sex, Spaß, Arbeit, Drogen, was immer dich am Laufen hält." Shears sitzt mit Del Marquis, dem Gitarristen der Band, im Tagungsraum seiner Plattenfirma und macht einen beunruhigend ausgeschlafenen Eindruck. Kleine Augen signalisieren Müdigkeit, großes Interesse - was aber mögen diese sperrangelweit aufgesperrten Augen bedeuten? Vielleicht Zufriedenheit darüber, dass es den Scissor Sisters gelungen ist, der Öffentlichkeit ein neues Album zu präsentieren.
"Die Songs waren nicht gut"
Zuvor hatte die New Yorker Band Monate im Studio verbracht und an einem Album gearbeitet, mit dem keiner glücklich war. "Die Songs waren nicht gut", sagt Del Marquis. "Sie waren nicht schlecht", korrigiert Shears. "Es waren tolle neue Songs. Aber sie fühlten sich nicht richtig an."
Wie tolle Songs, die sich falsch anfühlen, beschaffen sind, möchte Shears lieber nicht ausführen, fest steht aber, dass die Scissor Sisters die tollen, falschen Songs Elton John zu einem Vorspieltermin vorbeibrachten, der ihnen knapp beschied, dass das alles nichts tauge. "Das ist nicht die Platte, die ihr veröffentlichen wollt." Daraufhin brach Shears Richtung Berlin auf, feierte sich den Kopf frei und fand am Rande einer Sexparty, in der Hunderte von Männern angeblich unaussprechliche Dinge miteinander taten, das Motiv zum Werk: der Hedonismus der späten 70er- und frühen 80er-Jahre.
Die CD würde gern hedonistisch klingen
Mit dieser Idee gingen die Scissor Sisters erneut ins Studio und fingen noch einmal von vorn an. Dumm nur, dass das Ergebnis eigentlich gar nicht besonders hedonistisch klingt. Eher klingt es, als würde es gern hedonistisch klingen.
Es kann ein Fluch sein, mit einem Album zu debütieren, das alles hatte, was man von den Scissor Sisters wollte, dem nichts mehr hinzuzufügen war: Honky-Tonk-Pop, Elton-John-Balladen, Disco-Schieber, angenehm abwegige Songtitel wie "Tits On The Radio" - und mit "Comfortably Numb" eine Coverversion, die den alten Pink-Floyd-Heuler in einen unwahrscheinlichen Clubhit verwandelte. Das namenlose Werk von 2004 war eine herrlich unvorhersehbare Sammlung von Stücken, doch schon der Nachfolger "Ta-Dah" von 2006 wurde ein Album mit Betriebsfeststimmung: Eigentlich würden alle lieber heimgehen, stattdessen tut man so, als hätte man im Kreise der Kollegen die beste Zeit seines Lebens.
Seither klingt bei den Scissor Sisters der Spaß wie Arbeit. Das "Work" im Albumtitel sagt es, das Cover zeigt es. Man sieht ein Foto, das Robert Mapplethorpe 1980 vom Gesäß des an Aids verstorbenen Balletttänzers Peter Reed gemacht hat. Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von zwei "Pobacken aus Stahl", wie Jake Shears sie nennt. "Solche Dinger bekommt man nicht, wenn man nur lustig mit dem Hintern wackelt, sie bedeuten Jahre harten Trainings. Als ich das Foto sah, füllte sich das Album langsam mit Sinn: die frühen 80er, New York, Sex, Disco."
Man kann nicht leugnen, dass die Scissor Sisters sich nach Kräften bemüht haben. "Night Work" beginnt energisch, hält die Energie konstant und kommt dann nach elf Titeln zum Finale, ohne dass zwischendurch eine Ballade etwas für Erholung gesorgt hätte. Im zwölften Titel "Invisible Light" ziehen sie dann noch einmal alle Register. Jake Shears singt im verheißungsvollen Tonfall sexueller Ausschweifungen, Sir Ian McKellen, bei Alt und Jung vor allem als Gandalf der Weiße aus "Herr der Ringe" bekannt, trägt ein selbst verfasstes Gedicht über "Babylon", "sexual gladiators" und "party children" vor.
Party in allen Schattierungen
"Für mich ist 'Night Work' aber nicht einfach nur ein Partyalbum", sagt Del Marquis, "die Titel behandeln das Thema Party in all seinen Schattierungen: Hier sieht man ein Paar, das sich frisch verliebt hat, da steht jemand allein in der Ecke, dort haben sich gerade zwei getrennt, vorn wird getanzt und ganz hinten, im Dunkeln, wird jemand vergewaltigt." "Toll! Das gefällt mir. Ja, genau so ist das Album", sagt Shears, strahlt und reißt die Augen noch ein wenig weiter auf.
Man will ihm nicht die Laune verderben, aber: So ist das Album eben nicht. Es ist das nette, nicht allzu aufregende Werk einer Band, der das Kunststück gelungen ist, sich aus den New Yorker Schwulenbars heraus zu einem Massenphänomen zu entwickeln, das in Europa ganze Stadien füllt.