Elton John & Co

Was ist schwuler Pop?

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Michael Pilz

Foto: dpa

Elton John hat eine neue Platte aufgenommen. Und seine Lieblingsband ebenfalls, die Scissor Sisters. Die Band aus New York ist derzeit aus dem US-Radio verbannt, feiert gerade deshalb große Erfolge.

Als Elton John vom Junggesellendasein Abschied nahm, gemeinsam mit dem Bräutigam David Furnish selbstverständlich, trat Jake Shears als Gloria Gaynor auf. Er sang „I Am What I Am“. Es soll der Höhepunkt des Balls gewesen sein. Jake Shears singt seltener vor Hochzeiten mit seinen Scissor Sistors, einer zu drei Fünfteln homosexuellen Popband aus New York. In seiner Neigung, junge und begabte Musiker hysterisch zu verehren, feiert Elton John die Band als seine gegenwärtigen Lieblinge.

Ausdrücklich dankt er dem Quintett im Textheft seines neuen Albums, des inzwischen 44., für ihren unschätzbaren Einfluss. Auf dem zeitgleich auf den Markt geworfenen zweiten Werk der Scissor Sisters ist der 59-jährige Engländer sogar zu hören. Am Klavier.

Ein Idol trifft seine Geisteskinder

Beherzt stürzt er sich für ihr „I Don’t Feel Like Dancing“ in die Tasten, dazu singt Jake Shears wie eine Discokönigin der siebziger Jahre. Ein Idol trifft seine Geisteskinder in der künstlerischen Elton-John-Epoche. Die lag vor der künstlichen.

In dieser schamlosen Besinnung auf die Zeit, bevor der heute 28-jährige Jake Shears zur Welt kam, wird die Grundidee der Scissor Sisters deutlich: Es gibt aufrichtig erscheinende Rockbands. Und es gibt pompöse Popentwürfe, die wie eine einzige Lüge wirken. Shears: „Wir schließen diese Lücke und veranstalten grundehrliche Musik als große Show.“

Travestie-Fest „Origami Orgy“ als Auftrittsmöglichkeit

Dies geht zurück auf den bedrückenden New Yorker Herbstanfang 2001. Jake Shears beschloss mit seinem Freund Scott Hoffman, ein Gesangduo zu bilden und gegen den 9-11-Trübsinn anzufeiern. Eine Auftrittsmöglichkeit bot sich beim Travestie-Fest „Origami Orgy“.

Die Erfinderin des regelmäßigen Treibens, die heterosexuelle Schwulenaktivistin Ana Matronic, trat der Gruppe bei. Die Scissor Sisters nahmen Teil am damals modischen Electroclash. Hier wurden Popsongs dilettantisch an Elektroinstrumenten imitiert und ruiniert, was rasch an Reiz verlor. Daraus ging allerdings die originelle Discofassung der Pink-Floyd-Ballade „Comfortably Numb“ hervor.

Gehecheltes Denkstück: Discofassung von „Comfortably Numb“

Das beegeesartige Gehechel eines ernsten Denkstücks über Rock an sich erfreute Radiohörer weltweit. Ganz besonders aber britische: 2004 erschien das Album „Scissor Sisters“, und laut Umfragen befindet es sich original oder gebrannt in jedem vierten Haushalt Großbritanniens. Häufiger als „Sgt. Pepper’s“ von den Beatles.

Viele Menschen stören sich also nicht im Geringsten an eher drastisch vorgetragenen Liedern über homosexuelle Sicht- und Lebensweisen. Jason Sellards, wie Jake Shears im bürgerlichen Leben hieß, berichtet gern von seiner Jugend unter Puritanern in Kentucky und wie seine Offenbarung dort empfangen wurde.

Songinhalte: Bizarre Vorlieben und schwulenhassende New Yorker Bürgermeister

In New York wurde er Go-Go-Tänzer. Seine Mutter führt er seither durch die Clubs, davon erzählte Shears in „Take Your Mama“, dem wohl schönsten Song 2004. Die Lieder handelten im Wesentlichen von bizarren Vorlieben und landläufigen Praktiken, von schwulenhassenden New Yorker Bürgermeistern, Sex und Drogen. Und von allem gleichzeitig. „Ta Dah!“, das aktuelle Album, knüpft in seiner handgemachten Tanzmusik an das Debüt an, trägt in den gemäßigteren Texten allerdings dem breiten Zuspruch Rechnung.

Wenn der Unsinn einer schwulen Popmusik je von Verächtern oder Liebhabern verbreitet wurde: Von den Scissor Sisters wird er gründlich widerlegt. Zwar wäre Disco nie erfunden worden ohne schwule Schwarze, aber jeder weiß, was für ein Volksvergnügen daraus wurde.

Jake Shears: „Wir liefern Entertainment, keine Travestie.“

Gern wurde dramatisch oder rührend miserable Heterosexuellenkunst von Homosexuellen okkupiert. Aber die Masse wurde nie enteignet. Man behalf sich mit verwegen klingenden Vokabeln und mit Susan Sontags Camp-Konstrukten. Kein Familienvater mied deshalb die Pet Shop Boys. Jake Shears, der sich von David Bowies Kostümierungen zur Rockmusik verführen ließ, erklärt: „Wir liefern Entertainment, keine Travestie.“

Der Elton John der siebziger Jahre war ein großartiger Musiker und Entertainer, während sich der spätere Elton John verhielt wie sich der Biertrinker im Pub den „typisch schwulen Popstar“ vorstellt. Hofnarr im Versace-Fummel, Geldverschwender, Blumenfetischist. Als früher Musiker und Entertainer war er kaum zurückhaltender aufgetreten. Aber da verkörperte er noch das höhere Konzept des Glam. Auch Glam war weniger Travestie als Unterhaltung, unbändiger Stil- sowie Gestaltungswille und ein androgynes Dandytum. Dass Glam im Pop der Gegenwart als falsch, barock und schwul empfunden wird, haben die Scissor Sisters korrigiert - und damit Elton John an seine beste Zeit erinnert.

Johns Meisterwerk: „Captain Fantastic & The Brown Dirt Cowboy“

1975 brachte Elton John mit seinem Texter Bernie Taupin sein Jahrhundertwerk heraus. „Captain Fantastic & The Brown Dirt Cowboy“ klang so überdreht wie zauberhaft. Es übertrat die Grenzen von Musik und darin ausgedrückter Haltung. Das ist heute nicht mehr Sinn der Sache und der mehr als drei Jahrzehnte späteren Fortsetzung „The Captain & The Kid“. Bereits 2001 hatte sich Elton John als Musiker besonnen für die anrührenden „Songs from the West Coast“ und 2004 für „Peachtree Road“. Zunächst sang er von Schwulenhass und schließlich über die Gelassenheit des Alters, über Dankbarkeit und Demut. Seiner kermithaften, dabei aber volltönenden Stimme stand der Country schon vor 31 Jahren prächtig. Und so singt der Captain am Klavier, was ihm das scheue Kid geschrieben hat. Man freut sich über schmunzelnd hingeknödelte Zitate, über „Yellowbrick Road“ und „Rocket Man“ und „Tiny Dancer“.

Ein Amerika wird wieder singend angegriffen, wo sie Elton-John-Platten einmal zu Scheiterhaufen türmten, anlässlich des Outings. Ein verstörtes Mutterland dieser Musik, das seine augenblicklich beste Band, die Scissor Sisters, aus dem Radio verbannt hat und dem Rest der Menschheit überlässt. Der Rest weiß es zu würdigen, wenn Jake Shears die Grenze zwischen Rock und Disco niederquietscht. Damit beruhigt er die Welt: Man muss nicht schwul sein, um fantastische Musik zu mögen. Es wird nichts vorausgesetzt.

Scissor Sisters: Ta Dah! (Polydor/Universal)

Elton John: The Captain & The Kid (Mercury/Universal)