Ein in blutbeflecktes (!) Zeitungspapier eingewickeltes Paket fliegt durch die Luft. „Was ist denn drin?“ fragt Stella Kowalski ihren Mann Stanley. Und seine Antwort ist bereits Programm für das ganze Stück: „Fleisch!“ Der Australier Benedict Andrews, der jetzt an der Schaubühne Tennessee Williams' „Endstation Sehnsucht“ inszeniert, meint, diesen berühmten Anfang des Stücks gar nicht erst zu brauchen. Er pfeift auch auf all die klimatischen, symbolischen und musikalischen Feinheiten, mit denen der Autor die Handlung im französischen Viertel von New Orleans instrumentiert.
Die weibliche Hauptfigur tritt direkt aus dem Freien, vom Kurfürstendamm, durch die Hintertür in den Bühnenraum. Aus einer Art Kulissenfundus räumt sie sich nötige szenische Zubehöre zurecht. Sie hat nur wenig von jener „delikaten Schönheit“, mit der Williams diese Frau einführt. Der Zuschauer weiß sofort: Diese Blanche Du Bois ist kaputt. Andrews' 140-minütige und pausenlose Inszenierung des diffizilen Stücks folgt dem gängigen Trend zum Purismus. Gelegentlich bedient sie sich filmischer Dreh- und Licht-Effekte.
Statt in einer betont engen heißen Zweizimmerwohnung nimmt die Tragödie in einer kalten weitläufigen Halle ihren unvermeidlichen Lauf. Mögen die Ereignisse, die hinter Blanches Lebenslüge stecken, erst allmählich ans Scheinwerfer-Licht kommen – die Inszenierung kennt keine Geheimnisse.
Die Lehrerin Blanche ist aus ihrer Stellung und ihrem Heimatort entlassen und vertrieben worden. Jetzt ist ihr einziger Gefährte der Alkohol. Die Regie macht den Zuschauer zum Komplizen jener Existenzen im Stück, die Blanche weniger als bemitleidenswertes Individuum denn als moralisch defektes Original betrachten und in eine Klinik entsorgen. Mitch, ein Freund ihres Schwagers, will Blanche zunächst heiraten, lässt sie dann aber fallen. Andrews setzt noch eins drauf: Die Frau wird nicht nur von Kowalski, sondern auch von Mitch (Jörg Hartmann) vergewaltigt.
Jule Böwe spielt die verzweifelt Halt suchende und sexuell ausgehungerte Frau nicht als hochnervöses Falterwesen, sondern vor allem, auf hohen Absätzen, als derangierte, geschmacklos ausstaffierte, plappernde Alkoholikerin mit kindhaft krähender, oft jammernder und schriller Stimme.
Ihr familiärer Gegenspieler ist hier Lars Eidinger. Gewiss kein Brando-Typ. Die Figur des zugleich brutalen wie attraktiven Triebmenschen wirkt hier nur schmächtig jungenhaft. Kein Mannsbild, dem seine Mädchenfrau Stella (Lea Draeger) bedingungslos verfallen müsste. Ein Möchtegern-Macho.
Bei Andrews wirkt alles durchweg blutleer, atmosphärisch unbestimmt, weitläufig und psychologisch unscharf, unangemessen karikierend. Das Stück ist dennoch stark genug, um sich zu behaupten.
Endstation Sehnsucht, Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, Wilmersdorf. Tel:890023. Termine: 5.-7., 16., 17., 22.-24.Mai.