Kriegsdrama "Anonyma"

Von der Nazi-Anhängerin zum Opfer der Russen

| Lesedauer: 9 Minuten
Eckhard Fuhr

Das Buch ist ein Bestseller, nun kommt der Film "Anonyma" in die Kinos: Darin spielt Nina Hoss eine Frau, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von russischen Soldaten vergewaltigt wird. Morgenpost Online erzählte sie von den Schwierigkeiten, einen Menschen darzustellen, der sowohl Opfer als auch Anhänger der Nazis war.

Nina Hoss ist blass. Eigentlich möchte man sie gar nicht behelligen. Sie steckt in den Proben zu „Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab. Die Premiere am Deutschen Theater in Berlin steht kurz bevor. Und nun ist ein Interview-Marathon zu „Anonyma“ zu absolvieren. Umschalten also, zurück schauen auf etwas, das für die Schauspielerin doch längst abgehakt ist. Aber die extreme Herausforderung dieser Rolle wirkt nach. Hoch konzentriert gibt Nina Hoss darüber Auskunft.

Morgenpost Online: Frau Hoss, welches Verhältnis haben Sie zu der Frau, die Sie in „Anonyma“ spielen?

Nina Hoss: Sie meinen: Wie ich mich ihr angenähert habe?

Morgenpost Online: Ja. Das muss doch eine sehr fremde Figur für Sie gewesen sein. Sie ist ein halbes Jahrhundert älter als Sie, macht Erfahrungen und legt Verhaltensweisen an den Tag, die heute schwer zugänglich sind.

Nina Hoss: Als ich das Buch „Anonyma“ gelesen habe, hat mich, abgesehen davon, was den Frauen am Ende des Krieges in Berlin widerfahren ist, vor allem eines interessiert: Warum verschreibt sich eine junge, gebildete Deutsche, die Europa bereist und im Ausland gelebt hat, der nationalsozialistischen Ideologie? Wie konnte sie dem so aufsitzen, so intellektuell wie sie war.

Morgenpost Online: Die Nazis hatten eben auch ihre Intellektuellen.

Nina Hoss: Ja, aber damit hatte ich mich bis dahin noch nicht beschäftigt, weil man diese Ideologie so selbstverständlich ablehnt. Für den Film musste ich mit den Zeitumständen auseinandersetzen. Das Land war unten, und plötzlich hatte man wieder ein Ziel, es wurden Feldzüge gewonnen. Da konnte auch bei unabhängigen Geistern der Gedanke aufkommen: Vielleicht stimmt es ja, dass wir viel besser sind als alle anderen. Die Erzählerin lässt ja anklingen, dass sie vielleicht nicht gerade mitgemischt hat, aber doch eine Mitläuferin war. Immerhin war sie Journalistin und hat also auch Propaganda gemacht.

Morgenpost Online: Man kann sie nicht einfach als unschuldiges Opfer darstellen.

Nina Hoss: Natürlich nicht. Sie ist zwiespältig. Ich durfte es mir und den Zuschauern nicht zu leicht machen. Andererseits ist sie aber auch eindrucksvoll. Sie findet bei all den schrecklichen Dingen, die ihr widerfahren, die Kraft, sich hinzusetzen und differenziert zu reflektieren, wer denn diese Russen sind, die ihr das antun. Fünf Minuten nach einer Vergewaltigung darüber nachzudenken, dass das ja auch eine Aufrechnung, eine Vergeltung ist für das, was die Deutschen in Russland getan haben, dazu gehört schon viel Kraft und Aufrichtigkeit.

Morgenpost Online: Wie verstehen Sie die Gefühle dieser Frau? Der Film zeigt ja mehr als das Tagebuch offenbart, wo, egal was passiert, ein schnoddriger Ton durchgehalten wird, sozusagen als Fassade und Selbstschutz.

Nina Hoss: Es tauchen aber immer wieder Formulierungen auf wie: habe wieder stundenlang geweint. Was heißt denn das? Die sitzt also in der Ecke und heult sich die Seele aus dem Leib. Bis sie wieder Holz holen oder sonst was organisieren muss. Sie war nicht abgestumpft, sie schreibt bloß nicht über ihre Verzweiflung. Und das hängt mit ihrer preußischen Erziehung zusammen. Man hatte zu funktionieren. Die eigene Befindlichkeit stand nicht so im Mittelpunkt.

Morgenpost Online: Im Buch und im Film werden zwei Dinge verknüpft: Wir sehen den politischen Lernprozess einer jungen Frau, die nach den Ursachen für die Katastrophe zu fragen beginnt. Wir sehen aber auch eine Frau, die von den Siegern vergewaltigt wird. Sie wird erniedrigt und erwacht gleichzeitig moralisch und intellektuell. Sexuelle Gewalt und politische Pädagogik gehen eine merkwürdige Verbindung ein. Hatten Sie damit keine Schwierigkeiten?

Nina Hoss: Nein. Das ist ja in dem Kopf dieser Frau vorgegangen. Sie selbst reflektiert ja darüber und ist nicht das Objekt einer Pädagogik. Natürlich kann man verstehen, wenn eine Frau die Russen hasst, weil sie von einem Russen vergewaltigt worden ist. Aber diese Frau tut das nicht. Sie entschließt sich, genau hin zuschauen, auch wenn ihr das Schrecklichste passiert. Das ist ihre Art, mit der Situation umzugehen.

Morgenpost Online: Können Sie sich an eine Situation bei den Dreharbeiten erinnern, wo Ihre Rolle Sie ratlos machte?

Nina Hoss: Ratlos war ich eigentlich permanent. Der Film war wirklich eine harte Arbeit. Ich musste die Gefühlslage immer genau austarieren. Wie groß ist die Todesangst? Ist sie gerade vor lauter Erschöpfung gar nicht da? Im Buch ist manchmal von kaltem Schweiß die Rede. Aber der rinnt einem nicht so einfach, da kann man sich noch so sehr in eine Figur hinein versetzen. Die Angst und gleichzeitig das Verbergen von Angst zeigen, das fand ich sehr anstrengend aber auch spannend.

Morgenpost Online: Kommen wir mal auf die Männer in dem Film zu sprechen. An was ist Friedrich, der Kriegsheimkehrer, zerbrochen?

Nina Hoss: Ich habe das so verstanden, dass er etwas im Krieg erlebt hat, das er nicht mitteilen kann. Er hat ein Kriegstrauma. Und er kann den Umgang seiner Frau mit der neuen Situation nicht nachvollziehen. Sie kann noch tanzen gehen. Das kann er nicht verstehen. Er verzweifelt an seinem Leben.

Morgenpost Online: Die Frau hat sich ja auch ganz pragmatisch mit einem jungen russischen Soldaten arrangiert. Warum sind Frauen zu solchem Pragmatismus fähig und Männer nicht?

Nina Hoss: Das müssen Sie mir sagen.

Morgenpost Online: Na ja, es gibt auch pragmatische Männer, die in den Trümmern schon das Wirtschaftswunder planen. Vor allem gibt es die Sieger-Männer, die Russen. Die sind auf eine gewisse Weise attraktiv. Sind Sieger sexy?

Nina Hoss: Ich finde es sehr schwierig und gefährlich in diesem Zusammenhang von „Sieger sind sexy “ zu sprechen. In erster Linie waren sie für die Frauen eine große Bedrohung. Anonyma beschreibt die geschlagenen deutschen Soldaten, die in Lumpen, verdreckt und abgemagert herum laufen und die kräftigen russischen Männer mit ihren sauberen Uniformen. Sie fragt sich, wie das wieder zusammenkommen soll und hat das Kriegsmittel Vergewaltigung durchschaut. Die deutschen Soldaten kommen aus dem Krieg zurück und wollen nichts wissen von der Demütigung die den Frauen widerfahren ist. Deshalb haben die Frauen ein Schweigeabkommen getroffen, um das Fortbestehen der Gesellschaft zu sichern. Auch, weil sie es mussten. Es wurde doppelt geschwiegen: über die Taten und über die Leiden.

Morgenpost Online: Sind Sie wirklich hinter das Verhältnis zwischen der Anonyma und dem Major Andrej gekommen?

Nina Hoss: Ich glaube, dass sich da zwei Menschen gewissermaßen berührt haben, die eigentlich eine vorgefertigte Meinung vom jeweils anderen als Feind hatten. Er wird aufmerksam, weil diese Frau immer wieder bei ihm auftaucht und fragt sich: Was ist denn das für eine Person? In der Begegnung merken sie, dass sie sich sehr ähnlich sind. Trotzdem bleiben sie Feinde. Das ist keine Liebesbeziehung, die einher geht mit erfülltem Sex. Das könnte ich mir auch nicht vorstellen. Aber dass zwischen beiden eine Nähe entsteht, das kann ich nachvollziehen.

Morgenpost Online: Die Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee sind im russischen Geschichtsunterricht tabu. Wie sind Ihre russischen Schauspielerkollegen mit dem Stoff umgegangen?

Nina Hoss: Das war schwierig. So richtig darüber gesprochen haben wir nicht. Ich hatte aber das Gefühl, dass es unterschiedliche Haltungen gab. Manche mögen gedacht haben: Die sollen sich mal nicht so haben wegen der paar Minuten. Es gab aber auch Kollegen, die offen für das Thema waren. Aber der Sieg über die Deutschen ist zentral für das russische Selbstbewusstsein. Da bleibt das Thema russischer Verbrechen natürlich schwierig. Aber die Leiden der Russen kommen in dem Film ja vor, ihre Erfahrung wird also ernst genommen.