Verpackungen von Klopapier „Supersoft“, Kartoffelknödeln „halb und halb“, Negerküssen, Persil und Bananen sind an der Rückwand der hellen Kastenszene gestapelt. Der deutsche Bühnenbildner Johannes Schütz hat diesen Raum für die Schaubühnen-Koproduktion von „Over There“ (Drüben) gebaut. Am Londoner Royal Court Theatre war vor drei Wochen Premiere. Jetzt ist die Inszenierung, die der britische Autor Mark Ravenhill gemeinsam mit Ramin Gray erarbeitet hat, in Berlin angekommen.
Aus der Schreibmaschine des Verfassers von „Shoppen und Ficken“ zur deutschen Wiedervereinigung einen fundierten szenischen Leitartikel zu erwarten, wäre so treuherzig wie verwegen. Ravenhill macht daraus eine Beziehungsfarce. Zwillinge, die die Vornamen von Schillers „Räuber“-Brüdern Franz und Karl tragen, sind durch Scheidung der Eltern und Flucht der Mutter in den Westen, getrennt in Bundesrepublik und DDR aufgewachsen. Achtung: Franz ist der Wessi!
Noch 1986 hat er seinen Bruder in East Berlin besucht. Die beiden stellen fest, dass sie sich, trotz allem, immer nahe gewesen sind. Manchmal sprechen sie dieselben Sätze. Und weil Ravenhill solche Details liebt, erlebten die beiden Brüder gelegentlich sogar, einen gleichzeitigen, sozusagen grenzenlosen Orgasmus. Wow. Auf Karls Angebot, doch mal zu tauschen und für ein paar Tage im Osten zu bleiben, mag Franz allerdings nicht eingehen.
Dann fällt die Mauer. Was szenisch dadurch zum Ausdruck kommt, dass ein Stapel besagter Pappkartons zu Fall gebracht wird. Ossi Karl stürzt sich zunächst ins Konsum- und Supermarktgetümmel des Westens. Dann aber verliert er seinen Job und wünscht sich die alten Verhältnisse, samt Mauer, zurück. Er versucht, Franz’ kleinen Sohn (für den hier stellvertretend ein Spülschwamm herhalten muss) auf „Junge Pioniere“-Tugenden zu trimmen. Auch die sprachliche Synchronität der Geschwister kommt nun aus dem Tritt; sie brabbeln gelegentlich russisch oder amerikanisch gefärbtes Kauderwelsch. Franz mausert sich zum marktwirtschaftlichen Abzock-Wessi.
Die Geschichts- und Klima-Recherchen, die der Autor mithilfe Berliner Freunde angestellt hat, scheinen nicht gar zu nachdrücklich in die Tiefe gegangen zu sein. Ravenhill reklamiert, „so sehr wir auch die politische Realität der damaligen Regierung kritisieren“ ein Recht auf Ostalgie, das „Bedürfnis nach den Produkten, Liedern und Bildern der siebziger und achtziger Jahre“ bei „unseren Ostbrüdern“.
Der Witz der Aufführung ist ihre Besetzung. Die beiden „echten“ eineiigen Zwillinge Luke und Franz Treadaway spielen das ostwestdeutsche Bruderpaar mit fideler Schärfe und sind zunächst, vom Text mal abgesehen, nur an ihrer Frisur oder der Farbe der Slips zu unterscheiden. Das wird bald schon anders: der Ossi hat seinen Körper ausgiebig mit westlichen Lebensmitteln, Mehl und Nutella eingerieben. Franz braucht nur noch zur Ketchupflasche zu greifen, um sich den Bruder einzuverleiben. Wir haben verstanden: West schluckt Ost. „We are one!“. Nur gut, dass der Ossi doch wieder zum Leben erwacht.
Schon in London machte die lustige Inszenierung dem Publikum Vergnügen. Das Stück erntete freilich auch bittere Kritik. So weit liegt der Sloane Square eben doch nicht vom Lehniner Platz entfernt, dass man dort nicht Realität von fahrlässig naiver und effektheischender Geschichtsbetrachtung unterscheiden könnte.
„Over There“ (Drüben), Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, Wilmersdorf. Tel. (030) 890023. Weitere Vorstellung (Englisch mit UT) in Berlin: 25.3.