Morgenpost Online: Herr Ravenhill, kennen Sie Schillers Drama "Die Räuber"?
Mark Ravenhill: Vielleicht nicht so gut wie die meisten deutschen Schulkinder. Aber ich habe es schon einmal gesehen.
Morgenpost Online: Sie sind sich also bewusst, das Ihre beiden Hauptfiguren die gleichen Vornamen haben wie die Brüder Franz und Karl Moor?
Ravenhill: Ja. Ich wollte ihnen etwas mythische Tiefe geben. Zwei deutsche Brüder mussten einfach so heißen.
Morgenpost Online: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Stück über die Wiedervereinigung zu schreiben?
Ravenhill: Die Schaubühne hat mich um einen Jubiläumsbeitrag gebeten - zum 20. Jahrestag des Mauerfalls und zum 60. Jahrestag der Gründung von BRD und DDR. Dann habe ich etwa neun Monate lang so viel wie möglich über deutsche Geschichte gelesen. Und ich habe Interviews mit Deutschen geführt.
Morgenpost Online: Was waren das für Leute?
Ravenhill: Vor allem nette alte Damen. Eine hat im Forum-Hotel am Alexanderplatz gearbeitet. Eine andere, Frau Liselotte Kubitza, war Mitglied eines Zeitzeugenprojekts. Sie konnte viel über die Zeit seit den Vierzigerjahren erzählen - und war selbst ein Zwilling. Der ehemaligen Treuhand-Mitarbeiter Richard Graf zu Eulenburg hat mir über dieses Thema berichtet. Es war eine weit gespannte Gruppe von Leuten.
Morgenpost Online: Lange schien es, als würden Briten sich nur für eine Epoche deutscher Geschichte interessieren - das Nazi-Reich. Hat sich das ein bisschen geändert? Vielleicht durch den Film "Das Leben der Anderen"?
Ravenhill: Ein bisschen. Aber nicht sehr. Die Nazis, das Dritte Reich und der Holocaust sind so nützlich für liberale Demokratien. Was immer sie tun, egal ob es richtig oder falsch ist, sie können immer versichern: So sind wir nicht. Es gibt Klagen von englischen Schulkindern, die dieses Thema drei oder vier Mal in der Schule durchgenommen haben. Die Briten sind also immer noch ziemlich besessen von diesem Thema, und ich nehme an, andere Länder auch.
Morgenpost Online: Die Deutschen auch.
Ravenhill: Ironischerweise wurde gerade Marius von Mayenburgs Stück "Der Stein" parallel zu meinem am Londoner Royal Court Theatre gespielt. Da werden ja die Zwiebelhäute abgeschält, unter denen die Nazi-Vergangenheit zum Vorschein kommt. So eine Geschichte gefällt den Engländern. Sie wollen wirklich hören, dass in jeder deutschen Familie ein Nazi lauert. Damit sie sagen können: Ja, das wussten wir doch! Andere Aspekte der deutschen Geschichte sind nicht von so großem Interesse - weder die davor noch die danach.
Morgenpost Online: Am Ende des Stücks wird der Ost-Zwilling Karl von seinem West-Bruder Franz aufgegessen. Ist das eine politische Allegorie?
Ravenhill: Als ich das geschrieben habe, schien es mir einfach das logische Ende der Beziehung zwischen diesen beiden Brüder zu sein. Ich wollte keine politische Metapher schaffen. Erst später erfuhr ich, dass manche Deutsche die Beziehung zwischen Ost und West genau so beschreiben würden. Ich hege allerdings eine gewisse Sympathie für diese politische Ansicht. Herausgekommen ist bei der Vereinigung doch ein vergrößertes Westdeutschland.
Morgenpost Online: Kennen Sie das deutsche Wort "Ostalgie"?
Ravenhill: Oh ja.
Morgenpost Online: Man könnte Ihr Stück als ostalgisch beschreiben. Denn Karl beschreibt ein ziemlich leuchtendes Bild der DDR, in der sogar die Krankenhäuser besser waren.
Ravenhill: Meine Figur sagt das ja, als sie erfährt, dass seine in den Westen geflohene Mutter Krebs hat. Er will sie in die DDR bringen, in der Hoffnung, sie zu heilen. Das ist offensichtlich eine ziemlich lächerliche Idee. Die Ostalgie ergreift ihn ja recht spät in dem Stück. Zu Beginn ist er sehr glücklich, dass die Mauer fällt und das Regime endet. Er rebelliert auch gegen seinen kommunistischen Vater. Ostalgisch wird er erst, als er es nicht schafft, einen Platz im Westen zu finden. Da ist er übrigens schon sehr deprimiert, fast ein bisschen verrückt. Andererseits wollte ich die Ostalgie nicht lächerlich machen. Das ist ja nicht nur die Sehnsucht nach Spreewaldgurken und Trabis. Ich wollte Ostalgie als ein verständliches und manchmal sogar gerechtfertigtes Gefühl erscheinen lassen.
"Over There" (mit deutschen Übertiteln), Schaubühne am Lehniner Platz , Kurfürstendamm 153, Wilmersdorf. Tel. (030) 89 00 23. 23.-25. März, jeweils um 19.30 Uhr