Der britische Architekt David Chipperfield hat das Neue Museum wieder hergestellt. Doch an seiner Fassadengestaltung gibt es jede Menge Kritik. Wie er mit den Angriffen umgeht, warum Architekten nicht mit kleinen Budgets auskommen und ob er sein Büro in Berlin behält, verrät er im Gespräch mit Morgenpost Online.
Der Umbau für das Neue Museum ist abgeschlossen, nächste Woche erfolgt die offizielle Schlüsselübergabe, anschließend wird am ersten Märzwochenende das wieder aufgebaute, noch leere Haus auf der Museumsinsel seine Türen für drei Tage, vom 6. bis 8. März, dem Publikum öffnen.
Morgenpost Online: Mister Chipperfield, Sie sind ein außerordentlich erfolgreicher britischer Architekt, der gerne und häufig in Deutschland baut. Warum?
David Chipperfield: Kein anderes Land hat ein derart profundes Interesse an seiner Vergangenheit und versteht es, sich über die eigene Geschichte so reflektiert zu artikulieren wie die Deutschen.
Morgenpost Online: Fehlt den Deutschen in der Diskussion um ihr Erbe angelsächsischer Pragmatismus?
Chipperfield: Nein. Nach dem Krieg hatte Deutschland es schwerer als andere Länder, mit seiner Geschichte zurechtzukommen. London brannte 1666 ab, und der bedeutende Architekt Christopher Wren kam mit einem neuen Plan in den Palast des Königs und sagte: Nun, wo die Stadt abgebrannt ist, können wir eine richtige Stadt wie Paris bauen – mit einer Achse, runden Punkten und aus der mittelalterlichen Stadt eine moderne machen. Der König antwortet nur: Jetzt ist ein schlechter Zeitpunkt, Geld und Mittel sind knapp. So wurde London nicht neu aufgebaut, sondern nur besseres Material verwendet: weniger Holz. Zudem wurde am zweiten Stock eine Trittstufe für die Leitern der Feuerwehr Pflicht. Das war der Beginn der Bauvorschriften und -gesetze. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als London bombardiert wurde, gab es eine starke idealistische Bewegung, eine moderne Welt zu bauen. Es entstanden in London, Plymouth und Coventry sehr moderne Bezirke, Fußgänger- und Einkaufszonen. Weil die britische Wirtschaft eher schwächelte, bauten wir schnell und schlecht. Viele Architekten dachten damals: Wir können diesem Trauma, dieser Tragödie einen Sinn geben. Viele Stadtplanungstexte aus der Zeit lesen sich spannend. Man wollte eine neue Gesellschaft gleich mit aufbauen.
Morgenpost Online: Das war auch ein Ziel in Deutschland.
Chipperfield: Es war auch eine Chance, die Vergangenheit auszulöschen. Heute Morgen habe ich eine Rede von Anselm Kiefer gelesen, in der er über Trümmer und die Idee der Stunde Null spricht. Er behauptet, es gebe keine Stunde Null. Die Vorstellung, dass es einen leeren Moment gibt, ist nicht wahr. Die Leere ist voller Trümmer. Und die Trümmer sind sowohl Vergangenheit als auch Zukunft. Das Bedürfnis, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen, hat dem Nachkriegsdeutschland viel intellektuelle Energie gegeben und die Kreativität gestärkt. Nicht zuletzt deshalb hat wohl keine andere Kultur so viele interessante Maler hervorgebracht.
Morgenpost Online: Sie sehen in der deutschen Melancholie also vor allem Gutes?
Chipperfield: Unbedingt. Was mich fasziniert, ist, dass in Diskussionen über Architektur, vor allem über Rekonstruktion und Wiederaufbau oder Reparatur, immer über die Bedeutung von Dingen gesprochen wird. Was bedeutet es, das zu tun? In England redet man weniger darüber, was die Dinge bedeuten. Man fragt: Was kostet es? Wie schnell wird es gehen und wer wird verantwortlich sein?
Morgenpost Online: Bei der Diskussion um das Stadtschloss wurde unendlich viel über Bedeutungen diskutiert.
Chipperfield: Eher nicht. Das Problem war der Mangel an Diskussion. Die Diskussion fand vor dem Architektenwettbewerb statt. Ich wurde oft gefragt, ob ich von dem Ausgang enttäuscht bin. Ich sagte dann stets, es war unvermeidlich, denn der siegreiche Architekt hat die Frage auf die Art und Weise gelöst, wie sie gestellt wurde. Meiner Meinung nach wurde aber die Frage von Anfang an falsch gestellt. Sobald die Frage so formuliert war, sobald es gesetzlich vorgeschrieben war, dass drei Fassaden genau so gebaut werden müssen, dass der Hof genau so gebaut werden muss… Um ehrlich zu sein, die interessanten Projekte, die am Ende noch im Wettbewerb waren, haben es nur so weit geschafft, weil es in der ersten Runde nicht genug Projekte gab. Diese beiden sehr interessanten Projekte versuchten wirklich, die Aufgabe zu hinterfragen und darüber nachzudenken, nicht, indem sie die Aufgabe ablehnten, sondern ...
Morgenpost Online: Wie das junge Büro Kuehn Malvezzi?
Chipperfield: Die haben den Sonderpreis bekommen. Aber sie hatten keine Chance, weil sie gegen die Regeln verstoßen haben. Es gab noch nicht einmal eine Diskussion darüber. Ich habe es immer wieder vorgebracht und schließlich sagten die Politiker: Okay, das ist der Gewinner, und dieses Projekt bekommt den Sonderpreis. Das war der Deal. Es war wie eine Verhandlung bei den Vereinten Nationen. Es gab einen anderen Entwurf, bei dem der ganze Museumsraum unten war, und wo die Mauern des Schlosses fast wie eine Ruine gebaut waren – ein ziemlich cleveres Projekt – und schließlich mochten es sogar die Museen. Aber diese Projekte konnten nicht gewinnen, weil sie nicht nur gegen die Regeln des Wettbewerbs, sondern gegen die Gesetze des Landes verstießen. Als Juror konnte man nichts machen. Normalerweise ist es spannend, in einer deutschen Jury zu sein, weil die Leute schreien, rote Köpfe bekommen und sich aufregen. Sie glauben an die Sache, es kommt zu einer richtigen Konfrontation. Es wird auf höchstem Niveau gestritten. Aber hier – nichts, keine Emotionen, weil wir nichts tun konnten. Wir saßen einfach da und sagten, na gut, ich glaube, dieser… Macht der dieses? Ja, Häkchen dran. Macht der jenes? Ja, Häkchen dran. Okay, gut, dann gewinnt der.
Morgenpost Online: So wurde Stella Sieger?
Chipperfield: Ja, es ist eine intelligente Arbeit. Ich glaube, er ist ein intelligenter Architekt und er hat intelligent auf die Frage reagiert. Er wusste, wie die Frage lautete.
Morgenpost Online: Viel im neu aufgebauten Berlin erinnert an Disneyland. Gerade für die ernsten Deutschen wirkt das luxuriös rekonstruiert, in seinem Glanz fast frivol. Eine List der Geschichte?
Chipperfield: Ich glaube, dass wir uns manchmal auf sehr emotionale Weise für unseren Verlust entschädigen wollen, und das ist oft anspruchslos. Ab und an funktioniert diese Strategie. Man ist dankbar, dass Warschau zwar vollständig rekonstruiert, aber gar nicht so schlecht wieder aufgebaut wurde. Es gibt viele solche Stadtzentren. Münster zum Beispiel. Im Schatten des Krieges war es irgendwie leichter zu rekonstruieren. Das ist das Komische. Wenn etwas abbrennt, würde man es nicht einfach am nächsten Tag wieder aufbauen?
Morgenpost Online: Ja, schon.
Chipperfield: Wahrscheinlich. Es gibt Momente, in denen ein simpler Wiederaufbau, selbst wenn nicht mehr viel übrig ist, absolut gerechtfertigt ist. Er bewahrt Kontinuität. Das ist nicht unbedingt anspruchslos. Vielleicht ist der Wiederaufbau nicht so schön wie das Original, aber das ist möglicherweise nicht die Frage. Ich bin nicht per se gegen alle historischen Rekonstruktionen. Selbst bei der Frauenkirche in Dresden versteht man das Bedürfnis, beispielsweise die Stadtsilhouette wiederzugewinnen. Ich saß sowohl in der Jury für das Berliner Schloss als auch in der für den Potsdamer Landtag. Ich war also ausge-Schloss-en in den letzten beiden Monaten. Ich bin jetzt wahrscheinlich Experte für den Wiederaufbau barocker Schlösser in Brandenburg und Berlin.
Morgenpost Online: Sie sollten einige neue Schlösser bauen…
Chipperfield: Barock-Schlösser in Brandenburg, in Berlin. Aber am Anfang hat man das Gefühl, dass, sobald man die Wiederaufbauentscheidung getroffen hat, alle Probleme gelöst sind. Dabei beginnen sie erst: Wie macht man das eigentlich? Was ist, wenn man einen Parkplatz bauen muss? Wie macht man das? Man kann der Komplexität und der Thematik selbst nicht entkommen. Glauben Sie es also nicht, dass, wenn wir sagen, wir machen einen historischen Wiederaufbau, plötzlich alle Diskussionen und Kritik vorbei sind.
Morgenpost Online: Gilt das auch für das Neue Museum?
Chipperfield: Mit unserer Lösung beim Neuen Museum haben wir uns bewusst Probleme geschaffen. Als ich die Schloss-Jury jeden Tag mit Kopfschmerzen und Enttäuschung verlassen habe, und dann zum Neuen Museum rüber gelaufen bin, dachte ich, oh, das ist großartig.
Morgenpost Online: Ihr Neues Museum lebt von Narben und Verletzungen: Ist es Ihr deutschestes Gebäude?
Chipperfield: Ja. Aber es ist auch sehr weltlich. Wenn Sie der Geschichte nicht vertrauen und der Neuschreibung der Geschichte nicht vertrauen, dann hat das Physische eine gewisse Macht. Eine Mauer oder eine Säule ist real. Und das Außergewöhnliche an Architektur ist, dass sie eine Kontinuität ist, dass sie etwas ist, wo man hingehen kann. Sie können in ein Palladio-Haus gehen, das 1542 erbaut wurde, und es beeindruckt Sie nicht, weil es ein Palast ist, es beeindruckt Sie nicht, weil Sie sich vorstellen, wie das damals gebaut wurde. Es beeindruckt Sie, weil es ein einfaches, pures Stück Architektur ist, das ebenso eindrucksvoll für eine zeitgenössische Person ist, wie es für alle anderen gewesen sein muss. Es ist absolute Architektur, und sie hat nichts mit Zeit zu tun. Dennoch schafft es eine zeitliche Verbindung von 500 Jahren. Es gibt keine Interpretation. Es ist es.
Morgenpost Online: Wie war das beim Neuen Museum?
Chipperfield: Im Fall des Neuen Museums blieb uns 60 Jahre nach dem Krieg, nach der letzten Geschichte des Gebäudes, ein physischer Kontext, ein Schatz aus Trümmern. Wir wollten ein Gleichgewicht zwischen den physischen Überbleibseln und der dokumentierten Geschichte schaffen. Da das Neue Museum 60 Jahre lang als Ruine verbracht hat, ohne dabei romantisch Ruine sein zu wollen, musste diese Zeit auch repräsentiert sein. Dann haben wir uns daran gemacht, ein neues Gebäude zu entwerfen.
Morgenpost Online: Es gab viel Kritik.
Chipperfield: Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn es zu solchen Fragen kommt, haben Sie einen fundamentalistischen Flügel, der sehr, sehr schnell motiviert ist und sehr viel mehr Lärm macht.
Morgenpost Online: Verstummte der Lärm während der Arbeit?
Chipperfield: Vor einigen Wochen haben wir zum vierten Mal eine Stunde diskutiert, ob wir den Schmutz von den vier Säulen in der Treppenhalle entfernen sollen – mit 20 Leuten. Das war das dritte oder vierte Mal, dass wir diese Diskussion geführt haben. Wir haben über jede Wand in dem Gebäude diskutiert. Wenn ich etwas Putz entfernen will, weil es keinen anderen Putz in dem Raum gibt und es mir dekorativ vorkommt, ihn dranzulassen, stehen wir stundenlang mit dem obersten Denkmalschützer Jörg Haspel da, der sagt: Sie können ihn nicht entfernen, Sie haben gesagt, Sie würden kein Original-Material entfernen, ich verstehe warum, aber das können Sie nicht machen. Es entsteht eine einstündige Diskussion in Eiseskälte. Alle stehen auf der Baustelle und diskutieren über eine Fläche von einem Quadratmeter. Es ist fantastisch.
Morgenpost Online: Wie steht es um die Baukultur in Deutschland?
Chipperfield: Ich glaube, die klassische Position des Architekten wird zerstört. Generell ist die Rolle des Architekten nicht mehr die, die sie war: Als derjenige, der in der Lage war, die Wirtschaftlichkeit, die Tektonik und die Funktionalität des Projekts zu koordinieren. Das wachsende kommerzielle System – im Gegensatz zum öffentlichen System – stellt das in Frage.
Morgenpost Online: Warum stellt es das in Frage?
Chipperfield: Weil der Architekt nicht mehr die beste Garantie für Zeit und Geld ist. Wer kann Zeit und Geld garantieren? Ein Bauunternehmer. Es ist ein Dreieck, in dem wir operieren. Es geht um Zeit, Geld und Qualität. Der Architekt versucht, dem gerecht zu werden. Aber Zeit und Geld waren nie solche Prioritäten. Wenn ein Projekt sechs Monate länger dauert, na und? Es wird 100 Jahre da stehen, also ist das kein Thema. Aber unter kommerziellen Bedingungen wollen die Leute Garantien. Es ist sehr unangenehm.
Morgenpost Online: Und das hat Folgen gehabt.
Chipperfield: Es sind zwei Dinge passiert. Erstens, die Architekten haben gezeigt, dass sie in dieser Hinsicht oft nicht sehr zuverlässig sind. Außerdem wollen sich die Bauunternehmer nicht von einem Architekten sagen lassen, was sie tun sollen. Wenn Sie glauben, dass es in Deutschland schlecht ist, gehen Sie nach Amerika. In Amerika ist man ein Diener. Wir hatten eine Situation in St.Louis, wo ich drei oder vier Mal den Ort des Empfangstresens in Frage gestellt habe. Am Ende hatten sie die Einstellung: Warum macht dieser Typ nicht einfach, was wir von ihm verlangt haben? Wir bezahlen ihn doch. Da sagte ich: Ich bin jemand, der von Ihnen bezahlt wird, um ein Urteil und eine Meinung zu haben. Natürlich bekommen Sie am Ende, was Sie wollen. Aber wenn ich nur tue, was Sie von mir verlangen, weil ich ein Diener, ein bezahlter Berater bin… – denn so ist das amerikanische System im Prinzip. In Deutschland wird zumindest die Idee geschützt, dass der Architekt eine Meinung, einen Status hat.
Morgenpost Online: Warum lernen die Architekten nicht Kalender zu lesen und sich von ihrem Künstlerdasein zu verabschieden?
Chipperfield: Es ist ein sehr schwerer Beruf, Ideen umzusetzen. Man braucht dazu eine Reihe von ungewöhnlichen Fähigkeiten. Man braucht eine gewisse konzeptuelle Fähigkeit, man muss organisieren können – wenn man 200 Leute hat. Man muss ein Verkäufer sein. Man muss die Leute bei Laune halten. Man muss wissen, wie man baut. Manchmal bin ich wirklich pessimistisch. Die Welt will nicht mehr für Qualität zahlen. Das Problem bei der Architektur ist, dass sie anders nicht prototypisiert ist. Wir können Qualität nicht auf die Art garantieren, wie es Mercedes kann.
Morgenpost Online: Warum nicht?
Chipperfield: Weil Mercedes vorher Jahre damit verbracht hat, einen Prototyp zu entwickeln. Wenn Sie bereit wären, zu mir zu kommen und zu sagen, ich will ein Haus, und ich bezahle Sie zwei Mal, zuerst um einen Prototyp zu machen, und dann komme ich in fünf Jahren zurück und bitte Sie noch mal, das zu bauen und erwarte dann, dass Sie wissen, was es kosten wird und wie lange es dauern wird, und dann erwarte ich, dass es perfekt ist, dann könnte ich es machen. Aber jedes Mal, wenn man baut, ist es ein Prototyp. Jedes Mal, wenn man eine Grube aushebt, gräbt man im Matsch. Man gräbt im Unbekannten.
Morgenpost Online: Warum können Architekten nicht mit kleinem Budget anständige Häuser bauen?
Chipperfield: Manchmal kommen Leute in mein Büro und sagen, ja, wir haben nicht genug Geld für die Apartments. Aber sie haben 180.000 Pfund, das ist viel Geld. Man kann ihnen dieses und jenes nicht geben, aber man kann ihnen etwas geben. 180.000 Pfund sind eine große Summe. Sie müssen keine 250.000 ausgeben. Man muss ihnen sagen, was sie für 180.000 bekommen.
Morgenpost Online: Auf der anderen Seite wurde Architektur zum Showbetrieb.
Chipperfield: Architektur ist auf schleichende Art wichtig geworden und gleichzeitig vollkommen unwichtig. Es ist eine sehr merkwürdige Konspiration, die da stattfindet. Die Präsenz der Architektur scheint stärker geworden zu sein, zumindest in den Medien, zumindest bei Projekten wie der BMW World oder der Museumsinsel. Ich nenne sie Projekte der grünen Zone. Der einzige Ort, an dem Sie in Amerika gute Architektur machen können, ist in einer grünen Zone. In grünen Zonen werden Universitätsgelände gebaut oder Museen – mit einer aufgeklärte Gruppe von Treuhändern die das Geld geben und die Bauunternehmer zurückdrängen. So fällt das Schlaglicht der Architektur nur auf Ikonen und singuläre Gebäude. In Deutschland kann man sehr hübsche Schulanbauten oder kleine öffentliche Gebäude finden. Überall sonst kollabiert die alltägliche Macht der Architektur, gute Häuser zu bauen, die Stadt zu erweitern und städtische Räume auf intelligente Weise zu planen. Sie bricht zusammen, weil sie dem Markt überlassen wird, weil wir seit 20 Jahren glauben, dass der freie Markt der beste Richter für alles ist. Ich denke, in den letzten sechs Monaten haben wir erkannt, dass der freie Markt das nicht ist.
Morgenpost Online: Wie gut ist die Showarchitektur?
Chipperfield: Das ist schwer zu beurteilen. Die Leistungskriterien für Architektur sind verwirrend geworden. Denn wie beurteilt man das Guggenheim Bilbao? Es geht über Architektur hinaus. Ich denke, Frank Gehry ist ein guter Architekt, und er bekommt funktionelle Dinge gut hin. Es gibt keinen Grund, warum er das nicht tun sollte. Wenn ich dem Bürgermeister von Bilbao sagen würde, es ist nicht gut geplant und der Raum ist nicht so toll für Kunst, würde der Bürgermeister von Bilbao sagen, dass das Gebäude besser als jedes andere ist, das er sich vorstellen kann. Denn es hat Bilbao weltbekannt gemacht. Wie beurteilt man jetzt Bilbao? Beurteilt man es wegen seiner konventionellen architektonischen Qualitäten oder wegen seiner neuen Rolle als eine Art großes Werbeplakat? Wenn Sie in die BMW World gehen, hier spielt die Architektur verrückt. Es gibt keine Funktion, es gibt keinen Zweck. Es ist Architektur um ihrer selbst willen. Sie ist verrückt geworden! Ein großes Werbeplakat.
Morgenpost Online: Wie würden Sie gute Architektur definieren?
Chipperfield: Architektur ist das Mittel, um eine Idee umzusetzen, genau wie Wörter das Mittel sind, mit dem man eine Geschichte erzählt. Aber häufig ist es in unserer Profession so, dass die Bauten und die Architektur zum Selbstzweck werden. Das ist der Fall, wenn Sie die Straße entlanggehen und sagen, was ist das überhaupt? Das ist verrückt. Selbst als Architekt verstehen Sie nicht, wozu es gut ist. An diesem Punkt haben Sie Ihr Publikum verloren. Ich finde, sie muss verständlich sein. Der Mensch, der dort lebt oder diesen Ort besucht, muss sie verstehen können. Er muss nicht damit einverstanden sein, aber sie muss deutlich sein. Ohne Relevanz berührt es dich nicht.
Morgenpost Online: Und beim Neuen Museum?
Chipperfield: Das Faszinierende an einem Projekt wie dem Neuen Museum ist, dass die Verantwortung nicht einfach ist und ich nicht sage, mein Bauherr ist das Museum, also muss ich das Museum glücklich machen. In diesem Fall ist die Verantwortung einfach enorm. Es ist deutsche Geschichte. Die Verantwortung geht über die normale Verantwortung hinaus. Wenn man eine Bibliothek in einer Universität baut, hat man eine Verantwortung für die Studenten, die sie benutzen, für das Universitätsgelände etc. Aber wenn man im Zentrum von Berlin ist, ist die Frage, wie das zu beurteilen ist, viel komplexer. An diesem Punkt kann man die Empfindungen nicht ignorieren. Ich glaube, dass Empfindungen sehr wichtig sind. Da tun sich viele deutsche Architekten etwas schwer.
Morgenpost Online: Werden Sie nach Abschluss des Museums mit Ihrem Büro in Berlin bleiben?
Chipperfield: Wir bauen ein neues Haus in der Joachimstraße. Im Hinterhaus planen wir Konferenzräume sowie ein kleines Café für uns, im Vorderhaus ein Apartment. Wir bleiben in Berlin.